Schnittmuster
Beharrlichkeit. Anders als die anderen bog sich dieses Fähnchen nach Osten . Gegen den Wind. Und Shen Sun traute seinen Augen nicht.
Es war bestimmt ein Zeichen. Eine unerwartete Rettung. Er starrte auf das rote Stoffdreieck, das sich nach Osten bog, und seine Augen wurden feucht. Tränen liefen über seine Wangen, schmeckten salzig auf seinen Lippen.
»Tran?«, fragte er.
Der Wind erstarb, und alle Wimpel hörten auf zu flattern.
Shen Sun lieà die Waffe sinken. Lächelte. Er würde die Mission beenden. Und er würde überleben. Wie immer, egal, was kommen mochte, seien es die Roten Khmer, die Shadow Dragons, irgendein hohes Tier. Oder ein langnasiger verwichster Cop, der ihm ununterbrochen nachstellte.
Nichts würde ihn mehr stoppen können.
Er blickte nach Osten, in die Richtung, in die der Mann mit dem Bambuskreuz vorhin verschwunden war. Ein paar Blocks weiter lag die Raymur Street. Plötzlich schwante Shen Sun das wahre Ziel seines neu entdeckten Feindes. Strathcona Projects.
Der Mann mit dem Bambuskreuz hatte es auf Vater abgesehen.
79
Als der Mann mit dem Bambuskreuz den Anruf bekam, befand er sich bereits unter der Ãberführung Hastings Street. Die StraÃe darunter war die Raymur Street, die Heimat vieler Transvestiten und Transsexuellen Vancouvers.
Die Ãberführung wurde von der StraÃe verschattet und von dem grauen Himmel, der wie eine gigantische Schiefertafel anmutete.
Der Mann mit dem Bambuskreuz hatte keine Augen für den Himmel. Er marschierte durch die Raymur Street, entlang den Bahngleisen, die auf der Ostseite der StraÃe verliefen. Die Schienen lagen etwas unterhalb des StraÃenniveaus und boten folglich eine gute Deckung, falls es zu einer SchieÃerei käme. Und das war wahrscheinlich. Obwohl er Shen Sun Soone seit über zwanzig Jahren nicht mehr gesehen hatte, wusste er, was für ein Typ er war. Ein Ãberlebender.
Ãhnlich wie er.
Sein Handy klingelte. Darauf hatte er gewartet. Der Anruf war unvermeidlich, seit Shen Sun Soones Gesicht über sämtliche Fernsehbildschirme der Nation flimmerte. Der Mann mit dem Bambuskreuz klemmte sein Handy ans Ohr.
»Ja«, meldete er sich.
Sheung war am Telefon, seine Stimme ungewöhnlich leise und distanziert. Aus seinen Worten sprach Bedauern und tiefe Bestürzung. »Die Situation hat sich zugespitzt.«
»Ja.«
»Es gibt keine Alternative.«
»Nein.«
»Was getan werden muss, muss getan werden.«
»Ja.«
Der Mann mit dem Bambuskreuz klappte sein Handy zu und steckte es weg. Er blickte über die StraÃe zu den Raymur-Siedlungen und gewahrte die Nummer 542. Der Mann, der hier lebte, hieà Lien Vok Soone und war der Vater von Tran Sang Soone und Shen Sun Soone. Nach den Fotos zu urteilen, war er ein alter Mann, schmächtig, hager und gebrechlich. Ihm gehörte ein kleines Lebensmittelgeschäft. Ein einfacher, aber ein rechtschaffener Mann. Ein weiterer Ãberlebender.
Es änderte nichts.
Der Mann mit dem Bambuskreuz war fest entschlossen, zuerst Lien Vok zu töten.
Danach wollte er Shen Sun ausfindig machen.
80
Nachdem Striker Rotmaske als Shen Sun Soone identifiziert hatte, ging die Information an jedes Dezernat in ihrem Distrikt. Sein Name war auf CPIC, demnach war die Info weltweit abrufbar. Grenzkontrollen und Küstenwachen wurden benachrichtigt, und nicht weniger als fünfzig Einheiten durchsuchten mögliche Verstecke. Bislang war die Suche jedoch negativ verlaufen.
Folglich beschloss der Detective, andere Wege zu beschreiten.
Gegen halb sechs abends â der Abend versprach noch lang zu werden â rief er einen alten Bekannten an, Brady Marshall von der Feuerwache 11. Brady hatte als Cop angefangen und war vor drei Jahren zur Feuerwehr gewechselt. Die Arbeitszeit sei besser, hatte er gemeint, Bezahlung und Sozialleistungen sowieso. Striker kam gut klar mit dem Mann.
Brady nahm beim dritten Klingeln ab. Striker schilderte ihm kurz die Situation und erwähnte den verdächtigen Anruf, der zu den Einsätzen in der Pandora Street führte.
»Haben Sie einen Augenblick Zeit?«, fragte Striker.
»Klar, für so was immer.«
»Also dann in einer Viertelstunde, ja?«
Felicia, die das Gespräch aufgeschnappt hatte, musterte ihn fragend. Er blieb ihr eine Erklärung schuldig. Stattdessen klappte er abermals sein Handy auf und tippte Courtneys Nummer ein.
Wieder landete er auf dem
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