Schnittstellen
sprechen mich an. Vorsichtig, als wäre ich ein rohes Ei. »Mit Meike, das geht gar nicht, Mama. Siehst du nicht, wie dünn sie ist, und hast du mal ihre Arme angeguckt?«
»Ja, habe ich«, antworte ich. » Ja, ich bin mit Meike im Gespräch. Ja, manchmal kommt sie eine Weile zurecht.«
Anna spricht mit Meike. Ich weiß nicht, worüber genau. Sie sprechen bei geschlossener Zimmertür. Als Anna schließlich aus Meikes Zimmer kommt, macht sie einen hilflosen Eindruck. »Meike hört mir zu, aber ich glaube, es kommt nichts an.«
Jeden Morgen gehe ich mit dem Gefühl in die Schule, nicht wirklich für Meike da zu sein. Als sie wieder zu Hause bleibt und wieder Rasierklingen im Bad liegen, resigniere ich. Ich habe keine Wut und keine Trauer, ich sage mir: Das schaffst du nicht! Meike muss heraus aus dem Betrieb, der sie verrückt macht. Und als ich Meike vorschlage, es mit einem Klinikaufenthalt zu versuchen, geht sie sofort darauf ein.
»Ich komme so nicht weiter, also warum nicht?«
Beinahe vermeine ich Erleichterung zu spüren.
Karl ist froh, etwas Konkretes unternehmen zu können. Er erkundigt sich bei unserer Krankenkasse, und unser Anliegen wird von Anfang an unterstützt. Der Haken an der Sache ist, dass die Kasse nicht mit der Klinik zusammenarbeitet, die uns von Meikes Therapeutin empfohlen wird. Und natürlich hätte ich Meike gern in einer Klinik untergebracht, die ehemalige Patienten als gut und hilfreich und mit geringer Rückfallquote beschreiben, aber die Kassen haben ihre bestimmten Vertragskliniken. Trotzdem freuen wir uns über das Engagement unseres Sachbearbeiters, denn es liegt Meike und uns am Herzen, dass es schnell geht. Nicht nur, weil der Klinikaufenthalt auf diese Weise die Oktoberferien einbezieht und damit die Zeit, die Meike in der Schule fehlt, verkürzt, sondern auch, weil Meike so schnell wie möglich weg will. Als der Entschluss gefasst ist, erscheint ihr jede Verzögerung unerträglich.
Meike
Ich bin erleichtert. Endlich komme ich hier raus. Endlich raus aus dem Leben. Ich muss mich dafür nicht einmal umbringen. Aber ich hoffe, dass es so wird, so, wie ich mir den Tod vorstelle. Ganz weit weg von der Gesellschaft. Das ist das Wichtigste. Ich bin für die anderen nicht mehr da, und sie sind es für mich auch nicht. Ich werde in einer weißen Kammer hocken und kann für mich allein sein. Niemand reißt die Tür auf und fragt, wie es mir geht, zumindest nicht, ohne vorher anzuklopfen. Ich muss morgens nicht mehr in die Schule, ich muss keine Hausaufgaben machen, keine Leistung erbringen, ich muss nicht dünn sein, weil mich niemand sieht. Niemanden wird interessieren, was ich tue. Niemand wird mitbekommen, was ich tue, und so kann mein Tun auch nicht als schlecht, unzulänglich und ungenügend abgestempelt werden. Ich stelle mir das oft vor. Allein in einer weißen Kammer. Sitzen und nichts machen. In Ruhe gelassen werden und vergessen, dass es da draußen eine Welt gibt, in der Menschen leben. Vergessen, dass es Menschen gibt. Menschen sind, abgesehen davon, dass sie schlecht für die Welt sind, auch schlecht füreinander. Menschen sind schlecht für mich. Ich hasse die Menschen. Sie lachen einen doch nur aus.
Meine Mutter meint immer, niemand könne allein sein. Niemand könne isoliert leben. Der Mensch sei ein Herdentier, und ganz allein würde er verrückt. Ich wäre so gern allein. Ich kann nicht MIT Menschen leben. Ich will, dass sie alle weg sind. Dass sie fortgehen und aufhören, mich anzustarren und mich zu bewerten. Denn ich weiß, wie sie mich bewerten würden, und das könnte ich nicht ertragen. Niemand kann es auf die leichte Schulter nehmen, wenn man ihm sagt, dass er nichts wert ist. Schon gar nicht dann, wenn er selbst weiß, dass damit nur die Wahrheit ausgesprochen wird. Ich will sie nicht, die Menschen um mich herum, die mit dem Finger auf einen zeigen und vor Ekel ihre Gesichter verziehen. Ich bin froh, dass ich jetzt gehen kann. Irgendwohin.
Ich bin meinen Eltern sogar dankbar. Ich glaube, ich war meinen Eltern noch nie so dankbar. Ich hätte nicht gedacht, dass sie sich so dafür ins Zeug legen, dass ich in diese Klinik komme. Ich hätte gedacht, es dauert viel länger. Jedenfalls bin ich ihnen umso dankbarer. Ich freue mich, dass ich das alles hier hinter mir lassen kann. Den ganzen Mist. Und wenn ich Glück habe, dann passiert vielleicht irgendein Wunder, und die Welt wird über die Zeit, in der ich weg bin, erträglicher.
Anja
Ich habe wieder Hoffnung.
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