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Schnittstellen

Schnittstellen

Titel: Schnittstellen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anja Abens
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Frau Bayer findet es auch gut, dass Meike stationäre Unterstützung erfährt. Vor allem ist es wichtig, dass sie aus dem System, das sie bedrückt, herauskommt. Die Schule ist wie Gift. Meike sieht den Klinikaufenthalt immerhin als Chance. Sie kann sich nicht wirklich vorstellen, dass er ihr hilft, aber sie will es versuchen, und darüber bin ich froh. Vielleicht können ihr die Ärzte und Therapeuten helfen. Ich bin mir mit Karl einig, dass wir viel zu lange versucht haben, immer alles allein zu schaffen. Meine Freundin sagt auch: »Man hat euch nie angemerkt, wie anstrengend alles für euch ist, auch damals mit Marvin nicht. Ihr müsst auch etwas sagen. Ihr wirkt immer so stark.«
    Und jetzt versuchen wir es endlich mithilfe von außen. Wir fahren mehr als fünfhundert Kilometer gegen Südosten. Als wir ankommen, wird mir schwer ums Herz. Es ist erst Oktober, aber hier ist es schon etliche Grad kälter als im Rheinland. Aber es ist nicht nur das Klima, das mich frösteln lässt. Der Klinikbau sieht kühl und abweisend aus. Natürlich tue ich zuversichtlich, und Meike scheint erfüllt von vorsichtiger Erwartung. Sie will alles richtig machen. Und ich muss schlucken. Dieses brüllende, zornige Kind, eigentlich wollte sie immer nur alles richtig machen. Sie war so ein liebes Kleinkind. Und auch später noch erfüllten sie Mitgefühl und Hilfsbereitschaft. Einmal spazierte ich mit ihr eine Straße in unserem Viertel entlang, da rief ein Kind aus einem offenen Fenster: »Meike ist das liebste Kind vom Kindergarten!« Daran muss ich denken, als wir die Klinik betreten. Die Empfangsschwester ist freundlich. Sie führt uns in die erste Etage, in Meikes Zimmer. Meike schaut sich um. Als wir allein sind, drapiert sie sofort den Stofftiger aufs Bett, den wir als Glücksbringer an der Raststätte erstanden haben. »Ich werde Bilder aufstellen«, sagt sie.
    Meike
    Die Klinik ist schön. Sie ist anders, als ich es erwartet habe. Sie wirkt nicht so, wie man sich eine Psychoklinik vorstellt. Und wahrscheinlich ist sie strenggenommen keine. Es ist eine psychosomatische Klinik. Hier werden Leute behandelt, deren körperliche Probleme den Geist angreifen oder deren geistige Probleme dem Körper zusetzen. Ich bin wohl ein Kandidat für Fall Nummer zwei. Ja. Es sieht ganz anders aus als gedacht. Viel freundlicher. Klar, ist alles mehr oder weniger weiß. Aber gar nicht so krass steril, wie man sich das vielleicht vorstellt. Es sieht alles bewohnt aus. Wahrscheinlich wollen die das auch so, damit man sich wohlfühlt.
    Mein Zimmer gefällt mir. Es ist groß. Mit einem Bett, einem Tisch am Fenster und einem Schrank. Ich habe sogar ein eigenes Bad, mit Dusche und Toilette. Das finde ich super. Ich hätte keine Lust, ständig mit anderen Leuten in Kontakt zu kommen, nur weil ich duschen will oder auf die Toilette muss.
    Meinen Eltern scheint es hier auch zu gefallen. Wahrscheinlich hatten sie Angst, ihr Kind würde in eine Art Zelle gesperrt, mit Gitterstäben … Knastatmosphäre. Mit einer Luke, durch die das Essen geschoben wird. Sie wirken erleichtert, jetzt wo sie feststellen, dass es anscheinend nicht so ist. Mir wäre das gleichgültig gewesen. Mein Blick wandert an dem künstlichen Bach hinter dem Haus entlang, über den eine schmale Brücke führt. Die Büsche und Bäume am Ufer sind teilweise schon orange gefärbt, während andere noch saftig grün erscheinen. Ich freu mich darauf, an dem Tisch am Fenster zu sitzen und allein zu sein, zu zeichnen, schreiben, basteln, Musik zu hören.

6. KAPITEL
    Anja
    Drei Wochen. Erst mal drei Wochen und dann schauen, ob eine Verlängerung empfehlenswert ist. Erst jetzt merke ich, wie erschöpft ich bin. Nach der Schule falle ich aufs Sofa und möchte nicht mehr aufstehen. In der Schule komme ich zurecht. Da fühle ich mich seltsamerweise nie erschöpft, erst wenn ich zu Hause bin, verlässt mich meine Kraft.
    Kürzlich hat mich eine Kollegin gebeten, einen ihrer Kurse zu übernehmen, weil es darin einen Schüler gab, der sie derart provozierte, dass sie zurückprovozierte. Dass das völlig sinnlos ist, weiß sie. Aber sie konnte es nicht ändern. Sie war dankbar, dass ich ihr den Gefallen tun wollte. Es handelte sich um vier Schulstunden in der Woche, ein Englisch-Grundkurs.
    Der Schüler bemühte sich. Dass ich nicht gleich in die Luft ging, wenn Papierkügelchen flogen, schien ihn zu wundern. Nach dem Unterricht musste gekehrt werden, das ist die Regel. Weil er schnell in die Pause wollte,

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