Schnittstellen
so intensive Gefühle oder sie zeigen sie einfach nicht. Und wer seine Gefühle nicht zulässt, der kann Gefühle nicht verstehen und hat keine Ahnung. Verstand bringt keine Ahnung. Vernunft bringt auch nichts, außer vermeintlicher Struktur und Ordnung. Ich hätte zugegebenermaßen oft lieber dieses Erwachsenendenken. Ich wäre gern durch meinen Kopf bestimmt. Durch meinen Verstand, Rationalität, Vernunft. Aber so bin ich leider nicht. Das würde alles viel leichter machen, keine Gefühle mehr haben. Dann wäre ich erwachsen und würde nicht mehr spüren, wie das Leben und die Welt wirklich ist. Dann würde ich keine Ahnung mehr haben. Und was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß. So sagt man doch. Aber gut. Ich lasse mich überraschen. Mir zuliebe und meinen Eltern zuliebe werde ich mal schauen, ob die Therapie nicht doch hilft.
Meikes Tagebuch
Die Klasse
Lena: Sie ist ebenfalls eine sehr gute Freundin von mir, und deswegen möchte ich sie hier natürlich auch erwähnen. Sie ist sehr fantasievoll und kreativ, was bei uns wahrscheinlich einen großen Teil dessen ausmacht, weswegen wir uns so gut verstehen.
Merkwürdiges: Wie Carina beherrscht sie die Kunst, komische Worte zu erfinden. Allerdings setzt sie diese in ihrem Alltag bevorzugt ein. Auch hier wurden die Gründe dieser anscheinenden Erkrankung noch nicht wirklich geklärt. Mit der Zeit gewöhnt man sich daran, und es fällt fast kaum noch auf, so halten wir es auch nicht für nötig, in dieser Sache weitere Nachforschungen anzustellen.
Lena hätte viel zu sagen, tut es aber meistens nicht, sei es, um andere nicht zu verletzen, oder aus anderen Gründen.
Meiner Meinung nach sollte sie sich öfter überwinden, sie muss ja nicht in ähnliche Übertreibungen verfallen, wie ich es von Zeit zu Zeit vorziehe.
Abschließend: Ich kenne Lena schon seit der Grundschule, und wie schon erwähnt, verstehen wir uns sehr gut. Wegen ihrer Art jedoch, wie sie sich nach außen hin zeigt, ziehen wir es wohl vor, uns in anderen Gesellschaftskreisen aufzuhalten. Trotzdem finden wir oft wieder zueinander, was ich auch bestimmt nicht bereue.
Und somit auch schöne Grüße an Lena!!!!
Anja
»Wahnsinn, Meike hat sich ja entwickelt.« Conny, Lenas Mutter, treffe ich meist vorm Supermarkt. Wir nehmen uns immer vor, uns noch mal gemütlich zusammenzusetzen, aber irgendwie finden wir nicht die Zeit. Deshalb tauschen wir die letzten Ereignisse schnell vor dem Laden aus.
»Letztens saß ich in der Bahn und es steigt ein Teenager ein, streichholzkurzes Haar, aufrechte Haltung und eine Präsenz … und dann erkenne ich erst Meike.«
Connys Bewunderung ist ehrlich gemeint. Ja, ich finde auch, dass Meike nach dem Klinikaufenthalt anders ist, der Versuch war auf jeden Fall richtig, aber ich weiß, dass wir noch einen weiten Weg vor uns haben. Ich erzähle Conny, dass der Gang zur Schule nach wie vor ein Canossagang für Meike ist, aber dass wir große Hoffnung auf Frau Hendricks, Meikes Therapeutin, setzen. Meike mag sie, das spüre ich, aber ob die Therapie hilft, steht in den Sternen. Ich merke Conny an, dass sie mit ihren Gedanken woanders ist, sie sieht auch abgespannt aus. Ich frage, was sie denn beschäftigt. Und sie erzählt, dass ihr Sohn »gemobbt« wird. Conny sagt das zögerlich. Tobias besucht das gleiche Gymnasium wie Meike und Lena, er ist nur zwei Stufen unter ihnen. »Wie wird er denn gemobbt?«, frage ich.
»Zuerst waren es nur verbale Angriffe. Es gibt da einen Jungen in der Klasse, Pascal, der ist wie seine Eltern ein richtiger Großkotz, muss immer den Ton angeben. Nach einem Fußballspiel im Sportunterricht reichten ihm die Verletzungen mit Worten wohl nicht mehr aus …« Conny steigen die Tränen in die Augen. »Tobias Mannschaft hatte gewonnen, und Pascal hat ihm nach dem Spiel von hinten so heftig gegen das Bein getreten, dass Tobias eingeknickt ist und sich ein Band im Knie verletzte. Er muss nun für längere Zeit eine Schiene tragen. Nichts mit Fußball vorläufig, und das, wo er sich doch für ein Trainingslager qualifiziert hatte, das in den Ferien stattfand. Tobias ist noch immer am Boden zerstört.«
»Und was ist passiert?«, frage ich. »Wurde Pascal zur Rechenschaft gezogen?«
»Nein, das ist es ja!« Conny schießen erneut Tränen in die Augen. »Ich habe Pascals Eltern angerufen, dass Pascal sich doch zumindest entschuldigen müsste. Und weißt du, was die Mutter gesagt hat? Jungens wären eben wild, und mit so etwas müsse man doch rechnen
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