Schnittstellen
einen Rat. Karl weiß ein Lied davon zu singen, er kennt meine Anfälle. Am häufigsten hat er wohl gehört: »Ich schaffe das nicht.« Vor allem meine Panik vor Prüfungen hab ich nicht im Griff. Vor jeder Lehrprobe dasselbe Theater wie früher in der Schule und wie in der Uni. Chaotische Planung, schlaflose Nächte. Ich habe gute Ideen, aber weil sie mir nicht perfekt erscheinen, bastle ich so lange daran herum, dass ich viel zu wenig Schlaf bekomme. Außerdem hasse ich formale Vorschriften, und Lehrproben strotzen vor Formalität. Eine gute Unterrichtsstunde halten ist kein Problem, aber den gewünschten Verlaufsplan mit den genau vorgeschriebenen Sequenzen und Fachwörtern, igitt! Warum tue ich mir das im fortgeschrittenen Alter noch einmal an? Die volle Lehramtsprüfung. Und niemand merkt mir an, dass ich eigentlich völlig k. o. bin. Das begleitet mich wie ein Segen oder ein Fluch, ganz wie man es nimmt. In der Regel ist man eher froh, wenn sich nicht jede Anstrengung auf dem Gesicht abzeichnet, aber wenn man down ist und die anderen sagen: »Gut siehst du heute aus«, das kann einem auch auf die Nerven gehen. Ich weiß noch genau, wie mir beim Einkaufen eine Nachbarin sagte: »Na, du musst ja auf Rosen gebettet sein, so wie du immer strahlst.« Ich war völlig überrascht, denn da hatten wir gerade die Talsohle in der Krise mit Marvin erreicht. Ich frage mich oft, was ich ausstrahle. Meine Mundwinkel schienen immer nach oben zu zeigen. Kein Wunder, dass niemand meine Probleme ernst nimmt. »Mama, dass du immer fröhlich guckst, das ist doch nicht normal«, hat Meike kürzlich gesagt. Was soll ich machen? Eine Maske aufsetzen, mit so einem traurigen Clownsgesicht?
Meike
Ich kann diese Erwachsenensprüche nicht mehr hören! »Ja, ich versteh dich, ich war auch in der Pubertät, da fand ich auch alles scheiße.« Ja … und dann?, frag ich mich. Was war dann? Dann hat die Gesellschaft sich geändert und alles war gut? Nein! Dann hast DU DICH ANGEPASST und alles war gut. Ich will nicht erwachsen werden. Ich will nicht SO werden. Ich will nicht resignieren. Etwas anderes haben Erwachsene meiner Meinung nach nicht gemacht. Anders kann ich mir nicht erklären, dass sie die Gesellschaft so wenig kritisieren. Anders kann ich mir nicht erklären, dass sie sich jetzt einfach eingefügt haben, nachdem sie in ihrer Jugend doch angeblich auch so viele Probleme mit diesem Scheißsystem hatten. Oder glauben sie jetzt, sie waren im Unrecht? Sie waren aber nicht im Unrecht. Das System ist ein stinkender Haufen Mist. Die Gesellschaft ist scheiße. Die Menschheit ist scheiße. Man muss zur Schule gehen und irgendwelche Fächer machen, die einen nicht interessieren. Die Gesellschaft ist doch nur darauf ausgelegt, dass man sich schlecht fühlt. Man wird mit Anforderungen überhäuft, von denen jeder weiß, dass sie zu hoch sind, und dann fühlt man sich schlecht, weil man die erwünschte Leistung nicht erbringt. Und die ganzen kleinen Fettwänste, die sich dieses System ausgedacht haben, sitzen irgendwo herum und kichern sich ins Fäustchen. Die Gesellschaft ist da, weil sie den Menschen, der in ihr lebt, zerstören will. Wenn das nicht ihr Ziel sein sollte, dann frage ich mich, wieso sie es sonst tut. Warum gibt es so viele Durchgedrehte, Essgestörte, Depressive. Wenn es das Ziel ist, ein freudiges Miteinander zu ermöglichen, dann frage ich mich, wieso die Gesellschaft nicht auf dieses Ziel hinarbeitet? Wieso tut sie alles nur Erdenkliche, um dem Menschen das Leben zur Hölle zu machen? Und wieso, verdammt noch mal, wehrt der Mensch sich nicht? Die Menschen werden von ihrer eigenen Erfindung zerstört. Ach, wie lustig. Toll gemacht, Mensch!
Ich werde nicht mehr dazugehören. Ich steige aus. Aber es ist schwer, sich aus einer Gesellschaft herauszuziehen. Es gibt so viele widerliche Parasiten. Vielleicht ist doch der Tod der einzige Weg nach draußen. Die einzige Chance, aus diesem Scheißleben herauszukommen. Ich will einfach verrecken. Manchmal halte ich die Luft an, mit der Absicht, nie wieder einzuatmen. Aber das geht nicht, das würde schon ziemlich viel Disziplin erfordern, sich so umzubringen. Ich habe in Gedanken schon ein paar Selbstmordmethoden durchgespielt. Aber so komme ich nicht weiter. Irgendwo herunterzuspringen ist nicht mein Ding. Obwohl es mir gleichgültig sein könnte, möchte ich nicht völlig zermatscht am Boden liegen. Das wäre mir peinlich. Ich wünsche mir einen stilvolleren Tod. Mit einer Pistole.
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