Schnittstellen
ist, zumindest nicht, wie sie es erlebt hat. Sie weiß aber auch, dass sie es allein nicht schafft, vor allem können Karl und ich ihr nicht helfen. Aber das haben wir schon vor Waldmünchen kapiert. Warum ist die Schule für Meike nur so schlimm? Ich überlege, wie es bei mir selbst war. Irgendwann, ich war allerdings etwas älter als Meike, war mein Kopf nicht mehr bereit, die Dinge aufzunehmen, die in der Schule verkündet wurden. Es war, als ob die Gefühle als dicker Teernebel den Kopf dichtgemacht hatten. Warum lernen, wenn sich die Eltern immer nur streiten? Warum lernen, wenn mein Bruder nicht einmal laufen kann? Warum lernen, wenn es so etwas wie Vietnam gibt? Warum kümmern wir uns nicht um die wichtigeren Dinge? Ehrlich miteinander umgehen, dafür sorgen, dass schreckliche Waffen niemals mehr Kinderkörper zerreißen? Wenn diese wichtigen Dinge getan sind, können wir alle besser denken, unsere Köpfe werden klar sein und für eine gute Zukunft des Menschengeschlechts auf Erden sorgen. Jemand, der Hunger hat und dem man sein Land streitig macht, der kann das nicht. Mütter, denen die Kinder im Arm verhungern, interessieren sich nicht für die Mondlandung. Und darum verstehe ich Meikes Nebel im Kopf, aber ich kann ihn nicht vertreiben. Von meiner Freundin, die als Lehrerin in der Klinikschule der Jugendpsychiatrie arbeitet, erhalten wir die Adresse einer Gesprächstherapeutin, die eine hohe Erfolgsquote in der Behandlung von Jugendlichen hat. Meike nimmt einen Vorgesprächstermin mit uns wahr. Sie versucht, ihren Überdruck loszuwerden, indem sie Wandgemälde erstellt. Ein schwarzer Engel in Lebensgröße mit dem Schriftzug Furialis überzeugt mich einmal mehr von Meikes künstlerischem Talent, aber zugleich spüre ich die wütende Kraft, die dahintersteckt, und denke, wo um Himmels willen soll mein Kind die lassen.
Meike
Ich dachte, es wäre besser, wieder zu Hause zu sein. Besser als in dieser dämlichen Klinik, die sowieso nichts bringt. Aber ich wäre lieber in einer Klinik, oder besser gesagt in einer Klapse. Ich will nicht in einem Zimmer mit Tisch, Fernseher, Fenster und Bad auf meinem Bett sitzen. Ich will auf dem Boden einer absolut weißen Zelle kauern, so weiß, dass es in den Augen weh tut. Und wenn die Tür geschlossen wird, dann wird es schwarz, stockdunkel. Und die Tür ist die meiste Zeit geschlossen. Da will ich sein. Irgendwo, wo es ein bisschen so ist wie tot zu sein. Ich will mich nicht mehr um mich kümmern. Wenn ich mich um mich kümmern muss, dann kann ich es nur darauf anlegen, mich kaputtzumachen. Ich hätte gern die Kraft, mich umzubringen. Dem allen hier ein Ende zu setzen. Aber das kann ich nicht, und genau aus diesem Grund bin ich verzweifelt. Man will gehen und kann es nicht. Das ist scheiße. Also würde ich gern gegangen werden, wie man so schön sagt. Und wenn mich das vorerst in eine dumme Zelle führt, dann ist das besser, als versuchen zu müssen, mein Leben in den Griff zu bekommen. Aber na ja, meine Eltern haben jetzt erst einmal vorgeschlagen, dass ich zu einer anderen Psychologin gehe. Eine ambulante Behandlung beginne, in der intensiv geredet wird (seufz). Aber okay, warum nicht, ich kann es ausprobieren. Ich rede nicht gern, daher hat es vielleicht nicht so viel Sinn, wenn ich dort rumsitze und die Wand anstarre, aber meinetwegen. Einige von den Leuten im Chat oder Leute in irgendwelchen Filmen erzählen ihren Psychologen irgendeinen Mist. Das ist doch unnötig. Ich würde reden, wenn ich es könnte, aber ich bin des Redens müde. Wie oft habe ich meinen Eltern versucht klarzumachen, wie es in mir aussieht. Ich habe so oft durch Gerede und durch Handlungen versucht zu zeigen, wie es mir geht und was mich stört. Aber niemand sieht das, niemand versteht meine absolut klaren und deutlichen Aussagen, das macht fertig, das macht leer und einsam und bringt mich zur Verzweiflung und ich bin nahe daran zu resignieren und zu sagen: »Okay, ich mache nicht mehr mit, ich gebe auf und setze mich in eine Ecke, um nie wieder aufzustehen und mit leeren Augen vor mich hin zu starren.«
Eine sehr schöne, ruhige, sehr entspannende Vorstellung. Aber dennoch kann ich das nicht, noch kann ich das irgendwie nicht. Ich werde mal abwarten, wie es mit der Psychologin ist, vielleicht hat sie mehr Ahnung von allem, vielleicht hat sie mehr Ahnung als ich. Ist aber eher nicht zu erwarten, weil Erwachsene im Großen und Ganzen nicht mehr auf ihre Gefühle hören, Erwachsene haben nicht mehr
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