Schnittstellen
ich. Drücke es auf meinen Arm. Es färbt sich rot. Durchweicht. Ich öffne die Zimmertür leise und schleiche schnell in die Küche. Schaue nur, ob nicht ein Tropfen zu Boden fällt. So viel Blut, aus so kleinen Wunden. Ich nehme mir einige Küchentücher und haste zurück in mein Zimmer. Die Wohnzimmertür bleibt geschlossen. Das Blut läuft meinen Arm hinab. Es kribbelt, es kitzelt und fühlt sich so gut an. Durch die Schnitte aus meinem Körper hinaus über meine Hand läuft das Blut. Ich umwickle meinen Arm mit einigen Tüchern und ziehe meinen Pullover an. Ich sitze auf meinem Bett. Ich mach das Licht aus und lege mich hin. Meinen Arm dicht an meinen Körper gepresst. Ein leichter Schmerz, ein leichtes Gefühl. Ich schlafe ein. Mir ist egal, ob ich morgen aufwache.
Anja
Machen wir das richtig? Immer wieder signalisiert Meike, dass sie auch mal allein sein will, dass unsere ständige Gegenwart ihr auf die Nerven geht. Der Teil in mir, der sich selbst regelmäßig nach Ruhe sehnt, nimmt Meikes Worte für bare Münze. Aber der andere Teil in mir vermeint zu spüren, dass Meike doch nicht wirklich allein sein will, der ist misstrauisch und vermutet, dass Meike nur mit ihrem inneren Monster allein sein will.
Darum üben Karl und ich jetzt Abwesenheit. In dem Westerwald-Hunsrück-Sommer hatten wir ein verfallenes Häuschen entdeckt, das für kleines Geld zu haben war, sodass es im Rahmen unserer Möglichkeiten lag. Es war nicht das alte Haus, das uns besonders faszinierte, sondern das riesige Gartengrundstück mit Blick auf das idyllische Dorf. Und dorthin fahren Karl und ich an den Wochenenden nun öfter und bauen und renovieren. Mit Luftmatratzen im trockensten Raum machen wir die Hütte bewohnbar. Wir lieben das beide. Meike war auch schon mal mit und hat Wände verputzt, aber sie macht keinen Hehl daraus, dass sie das alte Haus völlig daneben findet. Aber uns tut es gut, wir haben die Möglichkeit, dem Alltag zu entfliehen, ich komme raus aus der Kopfarbeit und dem Gefühlswirrwarr und Karl aus der Fremdbestimmtheit durch seine Chefs. Und ich denke, Meike ist sechzehn geworden, da will man die Eltern nicht ständig um sich herum haben. Ich hoffe nur, sie merkt nicht mein beklommenes Gefühl, denn ich weiß, dass ihr Selbstbild immer noch verzerrt ist, trotz der Disziplin, die sie sich auferlegt, um das zweite Halbjahr der zehnten Klasse durchzustehen.
Meike
Es ist egal. Es ist egal, wenn ich nicht gleich alles wegräume, was ich benutze, wenn ich mal nicht dusche und wie der letzte Idiot rumlaufe, wenn ich zu viel esse oder sonst was. Niemand ist da. Daher ist es egal. Wo kein Richter, da kein Henker. Wenn meine Eltern am Wochenende nicht da sind, bin ich viel entspannter, ich kann einfach machen, was ich möchte. Ich kann mir den Tag einteilen, wie ich will. Ich kann Chaos produzieren, wie ich will. Ich kann gleichzeitig im Wohnzimmer den Fernseher angeschaltet haben und in meinem Zimmer, wenn dann noch die Suppenschüssel auf der Spüle steht und das Brettchen mit Messer auf dem Tisch liegt und ich trotz der zwei angeschalteten Fernseher vor dem PC sitze, beschwert sich niemand. Das gefällt mir. Ich habe wenigstens für das Wochenende keine Verpflichtung. Niemand schaut, was ich mache, und niemand bewertet und beurteilt, was ich tue oder wie ich etwas tue. Dadurch bin ich nicht so angespannt. Ich finde gut, dass meine Eltern dieses Haus gekauft haben, nicht, weil es schön ist, denn das ist es nicht, sondern, weil ich dann mal allein sein kann. Ich kann wirklich meine Ruhe haben. Es ist etwas anderes, wenn jemand im Zimmer nebenan sitzt, selbst wenn er schweigt, als wenn man allein in der Wohnung ist. Das ist ein riesengroßer Unterschied. Ich bin viel entspannter. Hinzu kommt, dass ich am Wochenende auch nicht rausgehen muss, wenn ich nicht mag. Ich kann die ganzen zwei Tage in der Wohnung hocken und niemand beschwert sich darüber. Wenn ich in der Schulzeit aus dem Haus muss, stresst mich das. Wenn ich am Abend daran denke, am nächsten Tag erneut rausgehen zu müssen, macht mich das fertig, die Schule nervt. An den Wochentagen muss ich viel mehr darauf achten, was ich esse. Am Wochenende ist es nicht ganz so schlimm. Dann habe ich auch nicht so viele Scheißgedanken, die mir im Kopf rumspuken. Ich muss an nichts denken, weil ich keinerlei Verpflichtungen habe, weil keinerlei Anforderungen an mich gestellt werden. Ich kann einfach tun, was ich will. Meistens schaffe ich dann viel mehr.
Anja
Meike
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