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Schock

Titel: Schock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hunter Evan
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Glorias abweisende Verheißungen erfüllt hatte, erstarb plötzlich angesichts der Möglichkeit, daß sie ihn vielleicht überhaupt nicht kannte. Er würde an ihre Tür klopfen, sie würde öffnen, ihm ins Gesicht sehen, ihn nicht erkennen. Vielleicht würde sie die Tür zuschlagen. Vielleicht würde sie auch nach der Polizei telefonieren – es war immerhin erst halb sieben in der Frühe. Seine Erregung fiel in sich zusammen. Er stand im Korridor, einsam, ausgelaugt, entmutigt. Sie würde ihn nicht erkennen, ihm nicht sagen, wer er war, ihm ihr Bett, ihren Körper, ihre Wärme verweigern. Unentschlossen stand er da, den Kopf gesenkt; dann überlegte er sich: weshalb sollte sie mich nicht kennen? Ich bin Sam. Er zog die Schultern hoch und begann, nach Wohnung 7 A zu suchen. Er fand die Tür am Ende des Korridors, zögerte noch einen Moment, hob dann die Hand und klopfte mit dem Knöchel scharf gegen das Holz.
    »Wer ist da?« fragte die Frau von drinnen.
    »Ich bin's«, antwortete er. »Sam.«
    »Augenblick«, sagte sie.
    Er wartete. Sein Herz begann wütend zu hämmern. Sie wird mich nicht kennen, Himmel, dachte er, sie wird mich nicht kennen. Selber herauszufinden, wer er war, war nun nicht mehr wichtig, schien völlig belanglos; wichtig war nur, daß sie wüsste, wer er war, daß sie die Tür öffnete und sagte: »Sam, ach Liebster, wo bist du nur gewesen? Komm herein«, daß sie die Arme ausbreitete, ihn an ihre Brust zog, ihn mit ihrer Wärme, ihrem Parfum umgab, daß sie ihn kannte. Er wartete, während sie drinnen hantierte – was mochte sie nur machen? – wartete endlos, klopfte dann noch einmal, und sie rief: »Ja, ja, ich komme«; und er wartete immer noch; was zum Teufel mochte sie nur so lange – die Tür öffnete sich.
    Gloria Osborne war eine große, blonde Frau, Lockenwickler im Haar, einen gesteppten Morgenrock um die Schultern. Sie öffnete die Tür weit und spähte in den Korridor hinaus, und auf ihrem Gesicht lag der gleiche Schreck, der sich im Augenblick des Türöffnens auch auf dem seinen abgezeichnet haben mußte, denn Gloria Osborne war vielleicht dreiundfünfzig Jahre alt, hatte fahlblaue Augen, eine breite Nase und einen Mund, der nahezu verschwand, wenn sie keinen Lippenstift benutzte. Enttäuscht, fast zornig starrte er sie an; ihm war, als hätte sie ihn mit ihrer atemlos-verschlafenen Stimme getäuscht – er begriff: was er anfangs für Atemlosigkeit gehalten hatte, war in Wirklichkeit ein Zeichen nahenden Alters; er hasste sie, weil sie ihn getäuscht hatte, und sah dann, daß sie ihn überrascht anstarrte und darauf wartete, daß er sprach. Doch keiner sagte ein Wort. Er dachte daran, kehrtzumachen und zum Lift zu stürzen, doch dann überfiel ihn ein grässlicher Gedanke. Meine Mutter, dachte er. Diese Frau hier, mit ihrem Blechladen im Haar, wasserblauen Augen, mundlos, diese Frau ist meine Mutter!
    »Miß – Miß Osborne?« fragte er.
    »Ja?« Die Stimme klang vorsichtig, argwöhnisch.
    »Gloria Osborne?«
    »Ja?«
    »Ich …« Er seufzte schwer. »Ich bin Sam«, sagte er.
    »Ach?«
    Er nickte. »Ja.«
    »Sie mögen Sam heißen, aber ich kenne Sie nicht«, sagte sie.
    »Ich habe vorhin mit Ihnen telefoniert«, antwortete er.
    »So«, sagte sie. Sie musterte ihn immer noch argwöhnisch, als versuchte sie herauszubekommen, was er wohl vorhaben mochte.
    »Ihre Nummer stand in meinem Buch.«
    »Ach?« sagte sie.
    Er sah, daß sie ihm nicht glaubte, griff in die Jackentasche, zog das kleine schwarze Buch hervor, schlug die erste Seite auf und zeigte sie ihr.
    »Zweimal«, sagte sie und lächelte.
    »Wie?«
    »Sie steht zweimal in Ihrem Buch.«
    »Oh. Ja, ich – ich habe sie zweimal aufgeschrieben.«
    »Weil Sie vergesslich sind, stimmt's?« Auf ihrem Gesicht lag noch immer ein Lächeln, ein seltsames Lächeln, das er nicht deuten konnte. Und plötzlich spürte er den schweren Duft, der sie umgab; er begriff, daß Gloria Osborne, seine Telefongeliebte mit der atemlosen Stimme, sich zwar beim Aufstehen mit Parfum überschüttet, aber nicht daran gedacht hatte, den Lippenstift zu benutzen. Die Folgerungen, die sich daraus ziehen ließen, waren beängstigend.
    »Schön«, sagte Gloria, »warum kommen Sie nicht herein?«
    »Ich glaube, das lasse ich lieber«, sagte er. »Sehen Sie – ich glaubte, Sie kennen mich; offensichtlich ist das nicht der Fall. Da entschuldige ich mich lieber, weil ich Sie geweckt habe, und …«
    »Ach, Unsinn«, sagte Gloria. »Sie sind nun einmal

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