Schock
Eric.
Die nächste Viertelstunde verbrachte er mit dem Versuch, Eric zu zeigen, wie man auf die neue Art pfiff. Aber Eric brachte nicht mehr zustande als eine krächzende Mischung aus gepresstem Atem und Spucke. Erschöpft legten sie sich am Ufer ins Gras und beobachteten den Verkehr auf dem Wasser. Von Zeit zu Zeit fiel ein Wort, meist schwiegen sie. Eric zappelte zwar hin und her, streckte Hände und Füße, bewegte den Mund und schien doch zufrieden damit, am Fluss zu sitzen, die Schlepper und Motorboote anzuschauen, ein Rundfahrtboot, das langsam vorüberglitt, einen Tanker, der riesig und schwarz aus dem Nichts auftauchte, fremdartige Schriftzüge am Schiffsrumpf. Über den Brauen der Küste von Jersey marschierte langsam eine imposante Wolkenparade, gleichmäßig und gemächlich vom sanften Wind über den Himmel getrieben, weißleuchtend von aufgefangenem Sonnenlicht. Ein milder Wind wehte, streichelte Buddwings Wange, strich sanft über sein Haar. Fast wäre er eingeschlafen.
Er zwang sich zur Grenze des Bewusstseins zurück. Plötzlich überfiel ihn Angst und mit ihr das gleiche Vorgefühl eines Schocks, das er schon verspürt hatte, als er Glorias Wohnung verließ. Mit einem Ruck setzte er sich auf. Eric saß neben ihm, die Arme um die Knie gelegt, und schaute aufs Wasser hinaus. Er drehte sich um.
»Ich dachte schon, Sie schliefen«, sagte Eric.
»Beinahe«, erwiderte Buddwing und rieb sich mit der Hand über das Gesicht. Die Angst wollte ihn nicht verlassen. »Kennst du das, wenn man Angst hat?« fragte er.
»Klar«, sagte Eric.
»Und was macht dir Angst?«
»Dracula«, sagte Eric. »Hab' ich im Fernsehen gesehen. Der kann einem wirklich Angst machen.«
»Ich meinte, ob es wirkliche Dinge gibt, die dir Angst machen?«
»Aber er ist doch wirklich, oder etwa nicht?«
»Nein, das ist nur Mache«, sagte Buddwing.
Eric schüttelte den Kopf. »Nein, er ist wirklich«, beharrte er. »Ich habe ihn gesehen; er ist jemand, bestimmt. Das war nicht etwa eine Zeichnung, Sam; er war wirklich.«
»Das war ein Schauspieler«, sagte Buddwing. »Bela Lugosi.«
»Nein, es war Dracula. So hat er geheißen. Dracula. Er war ein Vampir.«
»Ja, ich weiß, wen du meinst.«
»Haben Sie ihn denn auch gesehen?«
»Ja.«
»Und?«
»Und was?«
»Nun, war er wirklich oder nicht? Sie haben ihn doch gesehen?«
»Ja, ich habe ihn gesehen.«
»Und?«
»Er war wirklich«, gab Buddwing zu.
»Klar«, sagte Eric. Er hielt inne. »Haben Sie jetzt Angst?« fragte er.
»Ein wenig.«
»Wovor? Vor Dracula?«
»Nein, nicht vor Dracula.«
»Ich kriege Angst, wenn nur von ihm die Rede ist«, sagte Eric. Er schauerte zusammen. »Aber vor wem haben Sie denn Angst, wenn nicht vor ihm?«
»Ich weiß nicht.«
»Es gibt keine Geister, wissen Sie«, sagte Eric. »Das hat Mammy mir gesagt.«
»Das weiß ich selber.«
»Gibt es wirklich keine?« fragte Eric zweifelnd.
»Nein, es gibt keine Geister.«
»Auch keine Gespenster?«
»Nein, auch keine Gespenster.«
»Und wovor haben Sie dann Angst?« fragte Eric.
»Ach, nichts«, sagte Buddwing lächelnd. »Man braucht sich vor nichts zu fürchten.« Er stand auf und streckte Eric die Hand hin. »Komm«, sagte er, »wir müssen gehen.«
»Warum?«
»Wir können doch nicht den ganzen Tag hier sitzen«, erwiderte Buddwing.
»Warum nicht?«
»Man muß doch etwas tun.«
»Aber wir tun doch etwas«, sagte Eric.
»Sicher. Ich meinte nur …«
»Gefällt es Ihnen hier nicht?« fragte Eric.
»Doch, es gefällt mir hier«, sagte Buddwing. In seiner Stimme lag ein seltsam sehnsüchtiger Klang.
»Dann bleiben Sie doch.«
»Nein, ich …« Er musterte Erics Gesicht, die weit offenen blauen Augen, den vorwurfsvollen Mund, und sagte sehr sanft: »Siehst du, Eric, ich habe etwas verloren und muß es wieder finden.«
»Was haben Sie denn verloren?« fragte Eric.
»Mich selbst«, sagte er.
Einen Moment lang betrachtete Eric ihn mit ernsten blauen Augen, unsicher, ob dies ein neuer Witz war oder nicht. Dann lachte er zögernd und ging mit Buddwing zur Straße hinauf. »Wie kann man sich selbst verlieren?« fragte er. »Das geht doch nicht.«
»Das dachte ich auch«, sagte Buddwing lächelnd. »Aber es scheint so, als hätte ich es fertig gebracht.«
»Und wer sind Sie dann?« fragte Eric. »Ich meine, wer sind Sie, wenn Sie sich verloren haben?«
»Siehst du, gerade das muß ich herausfinden.«
Am Straßenrand blieben sie stehen und warteten auf eine Verkehrslücke. Dann
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