Schock
Ingwersirup und Kumquat, Oktopus und Pinienkerne. Als er aus dem geparkten Wagen stieg, hinaus in den Frühlingsmittag, fiel sein Blick unmittelbar in die offene Tür einer Restaurantküche – er sah ganze Ferkel, die, mit Haken an große Ketten gehängt, langsam über einem Holzkohlenfeuer kreisten. Der durchdringende Duft bratenden Fleisches drang ihm in die Nase, weckte die Erinnerung nur um so kräftiger, Hackmesser, in sauberer Reihe über dem Block hängend, Seebarsch, mariniert und bratfertig, Reihen von Froschschenkeln, paarweise zusammengebunden, um in den Ofen gehängt zu werden, dies und das noch; er nahm Tinas Hand, als sie aus dem kleinen Wagen stieg.
»Und wie steht es nun mit Tee?« fragte Jesse.
Sally stemmte eine Hand in die Hüfte und streckte das Bein; das bleiche Weiß ihres Schenkels erschien unter dem tiefen Schlitz ihres Kleides. Tina trug einen blauen Rock und eine weiße Bluse, dazu eine winzige Anhängeruhr um den Hals, und sah viel weniger chinesisch aus als Sally in ihrem grünseidenen, hochgeschlossenen, geschlitzten Kleid. Sally erwog nachdenklich Jesses Frage, die Braue leicht gerunzelt, mit den Zähnen in der Wange nagend. Die Entscheidung, die sich in ihrem Inneren formte, hatte, wie es schien, mit Buddwing und Tina wenig, vielleicht sogar nichts zu tun. Buddwing argwöhnte, daß Sally, die um die fünfunddreißig sein mochte, wenn nicht älter, hier in Chinatown ihre eigene Wohnung hatte und nun mit sich zu Rate ging, ob sie ihre bescheidene Behausung und ihren heißen grünen Tee mit zwei fremden weißen Teufeln teilen sollte, von denen einer überdies noch ein Seemann war. Und im Gegensatz zu der Entscheidung im Wagen, bei der Sally Tinas Rat gehört und akzeptiert hatte, würde Sally diese Entscheidung zweifelsohne selbständig treffen, ohne Tinas Meinung oder Einspruch gelten zu lassen. So standen sie alle in stummer Erwartung auf dem Gehsteig, während Sally die Braue runzelte, die Hüfte vorschob, ihr Bein streckte und in der Wange nagte; die Chinesinnen der Nachbarschaft kamen und gingen mit ihren Marktkörben.
»Also gut, was soll's«, sagte Sally schließlich, »trinken wir Tee.«
Es sollte ein monumentales Gelage werden, an das sich Buddwing noch Jahre später erinnern würde – einer jener röhrend lauten, mit Sex und Whisky geladenen Nachmittage, an denen nichts gilt außer dem wilden, himmelstürmenden Vergnügen des Sichgehenlassens – und selbst das geschah nicht bewußt.
Die Wohnung wirkte nicht so orientalisch, wie er erwartet hatte – längst nicht so orientalisch wie das kleine Holzhaus an einer Seitenstraße von Yokohama im Mai 1946. Vor der Tür des Hauses saß ein Chinese auf einer umgedrehten Milchkiste. Er warf ihnen einen kurzen, missbilligenden Blick zu, als sie mit Sally die Treppe hinaufgingen, und beobachtete dann wieder die Straße. Aus der Baracke in Yokohama war Rauch aufgestiegen; sie hatte in einer Reihe ähnlicher Baracken an einer Straße gestanden, parallel zu einer anderen, die vor der Bombardierung eine Hauptverkehrsader gewesen sein mußte. Ein schmaler Pfad hatte zur Tür der Baracke geführt. Sie waren der älteren Frau mit dem Goldzahn gefolgt, die jüngere war hinter ihr hergetrippelt, den Pfad hinauf zur Barackentür und dann hinein. Es hatte nach Holzrauch geduftet. Mitten im Raum hatte ein kleiner Hibachi, ein Feuerkorb, gebrannt. Sally öffnete die Tür ihrer Wohnung, sie folgten ihr in die Küche, an deren anderer Seite ein orientalischer Perlenvorhang den Wohnraum abtrennte. An der Küchenwand hing ein Kalender mit dem Bild eines Chinesenmädchens, das sich schminkte. Ein Herd, ein Ausguss, ein Kühlschrank, ein Küchentisch mit Kunststoffplatte. Sally ging zum Perlenvorhang und raffte ihn für Jesse und Buddwing zurück. Sie betraten den anderen Raum, Tina und Sally folgten ihnen. Die Einrichtung erinnerte ganz entfernt an orientalische Vorbilder und ehrte Sallys ehrwürdige Ahnen mehr durch den Bruch als durch die Erhaltung der Tradition. Es gab eine Couch, erstanden in einer der modernen Schaumstoffpolstereien am Südende der Park Avenue, davor ein sehr niedriger Lattentisch, der Couch gegenüber ein Stapel leuchtendbunter Kissen. An der Wand hing ein anderer Kalender – japanisch, nicht chinesisch; auf einer modernen Kommode an der gegenüberliegenden Wand stand ein Abakus-Spiel; außerdem war noch ein Mahjong-Spiel da, und an der Wand über der Kommode hingen zwei schöne chinesische Drucke, die Vögel darstellten.
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