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Schock

Titel: Schock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hunter Evan
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Großvater alles, was vorgefallen war. Immer nur zehn Minuten, vielleicht ein oder zwei Mal die Woche, bis Buddwing sich auf diese Besuche zu freuen begann; und dann kam das Ende des Sommers.
    An diesem Tag war es nicht das farbige Mädchen, das an die Tür kam. Er hatte die Frau noch nie gesehen, doch sie trug Schwarz, und in der Wohnung hinter ihr war es unheimlich still, und dann sah er die anderen, Fremde, und erstarrte auf der Schwelle der Wohnung.
    Er riß die Augen weit auf. Die fremde Frau an der Tür musterte ihn neugierig.
    Er sah den Sarg.
    Er sah den alten Mann im Sarg.
    Er mußte wohl gefragt haben: »Ist er tot?«, denn die Frau antwortete ihm: »Ja. Ja, er ist tot.« Er ließ sein Warenpaket fallen, machte kehrt, rannte und wäre fast gegen die Wand getaumelt. Der farbige Liftboy fragte ihn, weshalb er weine; er sagte: »Mein Großvater ist tot«, und ging dann hinunter, wo sein Handkarren abgestellt war. Den Rest der Bestellungen in dem Karren lieferte er nicht mehr ab. Er ging zum Laden zurück, erklärte Di Palermo, ihm sei übel, fuhr dann mit der Untergrundbahn nach Hause und dachte die ganze Zeit: hätte ich nur darauf bestanden, hätte ich Mandy nur überredet, fünfundsiebzig Dollar auszugeben anstatt fünfzig, hätten wir nur nicht einen so lausig billigen, schäbigen Kranz gekauft – ich finde ihn gut genug –, dann wäre der alte Mann noch am Leben.
    Nun saß er auf einer Bank im Washington Square Park, die Tränen stiegen ihm wieder in die Augen, er versuchte sie fortzublinzeln; und er schaute zur Treppe der Universität hinüber und wünschte sich verzweifelt, daß Grace erschiene.
    Lieber Gott, warum mußte er sterben, dachte er, rieb die Augen, blickte zu dem Gebäude hinüber und wußte plötzlich, daß Grace nicht kommen würde, daß es sie nicht gab. Er stand auf, ließ die Bank hinter sich. Seine Füße tappten unsicher, er stolperte, fing sich, sah sich neugierig um, als wüsste er nicht, wo er war. Auf wen wartete ich eigentlich, fragte er sich. Grace? Aber es gibt sie doch nicht. Und es gibt keine Gnade für einen billigen Halunken, der das Gedenken an seinen Großvater besudelt hat, Gott, Gott, selbst die Schleife war schäbig, ›In liebender Erinnerung‹, Mandy, du Luder, du hast den alten Mann nicht gemocht, hast es sogar zugegeben; es gibt keine Gnade, du wirst auch in diesem versteckten Park keine Gnade finden.
    Wo ist sie, dachte er, und plötzlich schien ihn alle Vernunft zu verlassen. Die Hoffnung, Grace zu finden, vermischt mit der Verzweiflung, sie nie wieder zu sehen, ließ ihn laut das Wort »Grace!« herausschreien – und da wußte er, daß er wahnsinnig war.
    Er blieb mitten auf dem Weg stehen und starrte hilflos zu Boden. Plötzlich fühlte er sich aller Willenskraft beraubt, sein Richtungssinn verließ ihn, die Kraft, sich zu bewegen. Er war gekommen, um ein Mädchen namens Grace wieder zu finden, G.V. die Initialen in seinem Ring, und nun hatte die Doppelerinnerung ihn dazu gebracht, zu begreifen, daß sie nicht da sein würde, mit schrecklicher Sicherheit zu erkennen, daß er sie vor der Universität von New York nicht finden würde, obwohl er sie hier schon einmal gefunden hatte – weshalb war sie nicht da? fragte er, und auf einmal wollte er es nicht mehr wissen, wollte sich nicht mehr erinnern. Jesse, dachte er, bring mir bei, an nichts zu denken, ich will nichts mehr wissen, es gibt keine Grace.
    Ich weiß, wer ich bin, dachte er.
    »Ich bin Edward Vossler«, sagte er laut und nickte.
    Bellevue Hospital lag an der Sechsundzwanzigsten Straße, an der First Avenue.
    Sie würden ihn in eine Gummizelle stecken, und er würde die ganze verdammte Welt vergessen.
    Mit schnellen Schritten verließ er den Park. Er hatte den Gehsteig schon fast erreicht, als der Polizist ihn anhielt.
    Die Stille, die ihn bisher umgeben hatte, erschien seinem Gehör plötzlich wie völlige Lautlosigkeit. Der Polizist tauchte lautlos auf und vertrat ihm den Weg. Sein Schlagstock hing zwischen beiden Händen horizontal irgendwo zwischen Hüfte und Knien, als wäre er bereit, ihn sofort zu benutzen. Die Schachspieler schwiegen, der Straßensänger schwieg, die plaudernden Studenten waren stumm; er begriff nun, daß sie alle bei seinem ersten Ausbruch überrascht aufgeschaut haben mußten, und dann, als er aller Welt verkündete, er sei Edward Vossler, unheildrohend still geworden waren. Und abermals schossen ihm widersprüchliche Gedanken durch den Kopf: er war wirklich Edward

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