Schock

würde, wenn Aufruhr darin ausbrach – zumal von einem Neger angestifteter Aufruhr. Staten Island nahm in seinem Hirn ausgedehnte und sehr reale Dimensionen an.
    Von seinen Begleitern angefeuert, begann der farbige Sänger Freedom zu singen, was wiederum dem Polizisten ungemein kommunistisch vorkam und ihm gerade noch fehlte – ein von Negern angestifteter Kommunistenaufruhr in seinem Revier! Die beiden bejahrten Schachspieler umkreisten die Menge, als versuchten sie festzustellen, wo der schwächste Punkt des Spiels lag; nachdem sie ihn entdeckt hatten, stürmten sie in entgegengesetzter Richtung davon. Inzwischen war es einigen der Samstagsstudenten gelungen, sich ein Stück Pappe zu verschaffen und ein ungefüges Schild zu malen: SCHLUSS MIT DER BRUTALITÄT DER POLIZEI! Ein paar Lungerer aus der Bowery, echte Vagabunden, die tatsächlich gekommen waren, um tweedgekleideter Jungfräulichkeit in flachen Schuhen nachzustarren, begannen Peg o' my Heart zu singen; einige neugierige Collegeprofessoren traten aus dem Gebäude, blieben entweder auf der Fronttreppe stehen oder ließen sich zu der angesammelten Menge hinübertreiben, rauchten ihre Pfeifen, lächelten und dachten, wie hübsch es war, in New York im April jung zu sein.
    Der Polizist nahm die Mütze ab und wischte das Schweißleder – ein alter New Yorker Hinhaltetrick, den der farbige Sänger sofort als solchen erkannte. Er begann lauter zu singen und versuchte, die Lungerer zu übertönen. Der Polizist hatte den Text von Freedom nie gelernt und den von Peg o' my Heart vergessen; er setzte die Mütze wieder auf – wie hatte das alles nur angefangen? Ihn beschlich plötzlich das seltsame Gefühl, daß solche Dinge offenbar immer in seinem Revier anfingen; er dachte daran, sich zur Feuerwehr versetzen zu lassen. Während er noch mit sich zu Rate ging, begann ein Taschendieb am Rande der Menschenmenge sein Gewerbe auszuüben, und einer der Lungerer kniff eine hübsche, jungfräuliche Studentin, die sich zwar in der vergangenen Saison mit der halben Footballmannschaft von Fordham eingelassen hatte, nun aber nichtsdestoweniger empört aufschrie. Der Polizist war zu beschäftigt, um von diesen kleinen Gesetzesübertretungen Notiz zu nehmen. Vor seinem inneren Auge verwandelte sich die kleine Demonstration bereits in einen Gewaltmarsch zum Rathaus. Freedom leitete zu Blowin' in the Wind über, Peg o' my Heart zu I'm Looking Over a Four-Leaf Clover . Die Samstagsstudenten schwenkten ein zweites rohbeschriftetes Schild: NIEDER MIT DER ATOMBOMBE! und versuchten, gleichzeitig im Takt beider Songs zu marschieren. Die beiden bejahrten Schachspieler hatten auf ihrer Tour durch den Park eine Armee von Achtzigjährigen ausgehoben, die auf den Bänken gesessen hatte und sich nun wie ein Keil altersschwacher Schachbauern, denen es darum ging, den König mattzusetzen, in die Menge drängten.
    »Nun, nun, kann man denn nicht in Frieden darüber reden?« sagte der Polizist; doch schon begann eines der Mädchen mit den verschleierten Augen in fehlgeleitetem Protest die Bluse auszuziehen, sangen die Lungerer We Shall Overcome , ging der Negersänger zu Did Your Mother Come From Ireland ? über. Die gekniffene Studentin ohrfeigte den Mann, der hinter ihr stand, erkannte dann in ihm ihren Anthropologieprofessor und entschuldigte sich. »Ich nehme zurück!« röhrte einer der Schachspieler, der Polizist schrie: »Ich bitte mir Ruhe aus, alle!«, die marschierenden Samstagsstudenten dröhnten: »Viva Bertrand Russell!«; im gleichen Moment sank mitten in der Menge einer der Lungerer, insgeheim dem Methylalkohol verfallen, tot zusammen, und das Mädchen mit den verschleierten Augen schwenkte seinen Büstenhalter triumphierend in der Luft.
    Doch zu diesem Zeitpunkt war Buddwing bereits tief in Greenwich Village, sechs Straßenecken entfernt.

11
    Natürlich überraschte ihn, daß ihm alle zu Hilfe gekommen waren, ohne zu wissen, wer oder was er war. Er hätte Edward Vossler sein können, Sam Buddwing oder sogar Adolf Hitler – niemand hätte sich darum gekümmert. Als er mit dem Polizisten argumentierte, war es um seine Identität nicht besser bestellt gewesen als beim Erwachen in der Frühe; dennoch hatten sie seine Sache zu der ihren gemacht. Kam es also wirklich so sehr darauf an? Ob er nun irgendwer war oder niemand, wer kümmerte sich schon darum.
    »Augenblick, junger Mann«, sagte eine Stimme zu seiner Linken, ein wenig hinter ihm. Mit einem Ruck, bei dem sein Herz aus