Schockgefroren
verstehen. Der Ton ist jetzt so laut, dass ich das Pochen an der Tür fast nicht höre.
Aber nur fast. Ich zucke zusammen.
Da ist es wieder.
Jemand haut gegen die Tür.
Eine Männerstimme ertönt, und es ist nicht die Stimme des letzten Besuchers.
Jetzt hört es auch Adam G. Er zuckt zusammen, als habe er in die Steckdose gelangt. Er wird bleich. Seine Hände bewegen sich auf mich zu. Die Lachmaske fällt mir vom Gesicht.
»Adam G.?«, ruft der Mann vor der Tür. »Adam G.? Hier ist die Polizei. Machen Sie auf!«
Die Dreharbeiten gehen zügig voran. Das müssen sie auch, denn der Film soll noch in diesem Jahr ausgestrahlt werden. Wieder wollen mich die Filmemacher in meinem Arbeitsumfeld zeigen, aber dieses Mal kann ich keinen Arbeitgeber vorweisen. Der Regisseur ist erfinderisch und ruft ein bekanntes Hotel im Rhein-Main-Gebiet an. Dort helfe ich einen Tag aus, während mir die Kamera zusieht. Dieser Tag hat gleich zwei Auswirkungen: Zum einen ist eine wichtige Filmszene im Kasten. Zum anderen merke ich, dass ich keine Lust mehr habe, diesen Beruf länger auszuüben. Ich glaube, es hat etwas mit dem Wort »bedienen« zu tun. Während ich die Gäste bediene – gewandt und höflich wie immer –, denke ich darüber nach, ob ich das in Zukunft tun will. Davon bekommt die Kamera zum Glück nichts mit. Denn auch in diesem Film werde ich davon sprechen, dass ich ein eigenes Restaurant besitzen möchte. Aber ich schränke die Sache gehörig ein.
»Ich muss schauen, ob ich das überhaupt realisieren kann«, sage ich, um hinzuzufügen: »Realisieren will ich das auf jeden Fall, nur den genauen Zeitpunkt, ob es fünf oder zehn Jahre dauert, kann ich nicht sagen.« Das ist ein typischer Satz für mich. Ein Schritt nach vorne, ein Schritt zurück, ein Schritt zur Seite. Nicole würde vielleicht sagen: Typisch Sascha. Viele Pläne und dann doch wenig aus dem Leben gemacht.
Als Nächstes möchte der Regisseur Aufnahmen mit meinen Geschwistern und meinen Eltern machen. Sie sollen erzählen, an was sie sich erinnern. Vor allem Jenny interessiert ihn. Sie hat mich an jenem Tag in den Bus gesetzt. Wie war es, als sie nach Hause kam, und kein Sascha war da, will der Regisseur von ihr wissen. Jenny muss nicht lange überlegen. Wenn es einen Augenblick gibt in ihrem Leben, den sie nie vergessen wird, dann diesen.
»Ich kam ungefähr um zehn, halb elf nach Hause«, erzählt sie. Natürlich glaubt sie, ich liege schon im Bett. Sie kann nicht ahnen, dass mich um diese Zeit ein wildfremder Mann über die verschneiten Felder von Hochheim zerrt. Ein Mann, der mich küsst. Und noch ganz andere Sachen mit mir tun möchte. Ein Mann, der mich hat und nicht wieder hergeben will. Als sie die Treppe hochkommt, läuft ihr Papa entgegen.
Für einen Moment kann Jenny vor der Kamera die Tränen nicht zurückhalten. Sie sagt: »Ich habe ja meinen Bruder so lieb gehabt, auch wenn er mich manchmal genervt hat. Ich dachte, er ist so ein goldiger Junge. Vielleicht hat jemand, der kein Kind hat, ihn mitgenommen, damit er ein eigenes Kind hat. So waren meine Gedanken. Vielleicht hat er dann irgendwann keine Lust mehr auf meinen Bruder, weil er mal wieder nervt, und dann lässt er ihn wieder frei.«
Hätte ich genervt, denke ich, läge ich jetzt verscharrt auf dem Gelände. Heute lägen nur noch meine Knochen am Ort des Geschehens.
Und Jenny sagt: »Wahrscheinlich tobt ein Orkan in ihm. So kommt er mir auch manchmal vor.«
Die Kamera ist auf sie gerichtet. »Wir konnten alle nicht so gut damit umgehen in der Familie«, erzählt sie. »Wir haben vielleicht alle etwas falsch gemacht, indem wir nach Saschas Rückkehr versucht haben, so weiterzuleben, als ob nichts passiert wäre. Wir hätten das nicht tun sollen. Wir hätten darüber reden sollen. Alle miteinander reden.«
Die Kamera blinzelt nicht. Die Kamera kennt keine Tränen. Und Jenny sagt: »Er hat ständig neue Ziele. Er will mal dies, dann will er das. Er wechselt oft die Arbeitsstelle und hält es an einem Ort nie lange aus. Er ist mit sich selbst nicht so im Reinen.«
Die Kamera ist eine Maschine. Ich bin es nicht. Ich kenne Tränen. Als der Film ausgestrahlt wird und ich alleine in meiner Wohnung vor dem Fernseher hocke, höre ich Jenny sagen: »Er fühlt sich wohl ein wenig verloren manchmal.«
Ich kenne Tränen, aber ich lasse sie nicht raus. Ich kenne den Schrei in meiner Brust, aber der bleibt drin.
Jenny sagt: »Ich kann nicht sagen, wie er sich entwickelt hätte, wäre ihm das
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