Schockstarre
Handy in ihr Notizheft. Er hatte weit vorgeplant, in diesem Jahr. Am 6.1. fand sich kein Eintrag. Er wird den Termin mit Lehmann nicht mehr nachgetragen haben, weil er sich spontan mit ihm verabredet hat, dachte Katinka. Sie ließ den Betrag für das Essen auf ihre Zimmerrechnung setzen und ging zur Rezeption.
»Ich bräuchte einen Briefumschlag, wenn es geht, einen neutralen«, sagte sie zu Mirko Büchner, während sie ihren Zimmerschlüssel über den Tresen reichte.
Büchner nickte und verschwand im Büro, kam mit einem braunen Kuvert zurück.
»Danke!«
Katinka trat ins Freie. Noch mehr Sterne hatten sich zu ihren Artgenossen an den Himmel gesellt. Sie stieg ins Auto, steckte Mendels Handy und USB-Stick in den Umschlag, schrieb ihren Namen als Absender drauf und klebte ihn zu.
Der Diensthabende in der Polizeidirektion sah sie mit müden Augen an.
»Ich habe etwas für Hauptkommissar Schilling abzugeben.«
Sie reichte dem Beamten den Umschlag.
»Der ist erst morgen wieder da«, sagte der Mann müde.
»Morgen reicht. Schönen Gruß.«
Wenig später war Katinka wieder beim Hotel. Sie stürmte die Auffahrt hinauf und trat an die Rezeption.
»Jemand hat nach Ihnen gefragt«, sagte Mirko Büchner, glücklich, endlich richtig Hotel spielen und Nachrichten weitergeben zu können.
»Wer?«
»Er hat seinen Namen nicht genannt. Ein grobschlächtiger Typ, graue Haare.«
Hartmann, dachte Katinka. Jetzt drückt er auf die Tube.
»Sollte der Herr nochmal auftauchen, ich habe keinen Gesprächsbedarf.«
Im Zimmer stellte sie den Fernseher an. Hartmann würde sie sich noch vorknöpfen. Sie kuschelte sich ins Bett und sah sich ihre Aufzeichnungen durch. Peter Gruschka, dachte sie, angeblich von Frank Mendel aus der Agentur gemobbt. Alissa Herbst glaubte nicht daran, ihr Geliebter würde so etwas nicht tun. Als möglichen Mörder nannte sie jedoch Gruschkas Namen. Welchen Grund könnte Gruschka haben, Mendel aus dem Weg zu räumen?
Mendel drangsaliert Gruschka, macht ihm das Arbeiten in der Agentur unmöglich, rechnete Ka-
tinka ihre Variablen durch. Das ist die eine Version. Es gibt aber noch eine andere. Hat am Ende Mendel Gruschka erpresst? Von Gruschka verlangt, den Job hinzuschmeißen, ihm gedroht, irgendwas auffliegen zu lassen? War Gruschka ihm bei irgendetwas im Weg? Eigentlich konnte jeder zufrieden sein mit dem Status quo. Lehmann bekam sein Buch geschrieben. Gruschka arbeitete freiberuflich, wie er es sich immer gewünscht hatte. Hartmann hatte immerhin einen Job und war als Graphiker erste Sahne, wenn man glauben durfte, was gesagt wurde.
Katinka sah auf die Liste, die sie vor Alissas Haus notiert hatte:
ein gemobbter Ex-Kollege
ein neidischer Kollege
ein General aus Afghanistan
Letzteren kann ich streichen, dachte Katinka. Er ist erstens kein General. Und zweitens hat er keinen ersichtlichen Grund, Mendel umzubringen.
Sie stand auf und trat ans Fenster.
»Es sei denn«, sagte sie zu den weißglänzenden Schneeflächen dort draußen in der eisigen Nacht, »es sei denn, er wollte plötzlich sein Buch nicht mehr veröffentlicht sehen. Warum auch immer.«
Sie dachte an Benno Lehmann, den sympathischen Mann mit der Leidenschaft für Karpfen. Labil, psychisch aufs äußerste verletzt. Den ein paar Tropfen verschütteten Tees aus dem Gleichgewicht warfen.
Jeder ist fähig, einen Mord zu begehen, wenn die Umstände stimmen, mahnte sich Katinka. Jeder. Und alle Kriminellen lügen und spielen Theater. Alle.
Unbeeindruckt schickten die Straßenlaternen ihr schwaches, kaltes Licht in die Dunkelheit. Jenseits der Lichtkreise lag nichts als Schwärze, ein stummes, bewegungsloses Nichts. Sie war in Gedanken bei Thurid und ihrem Mentor. Thurid hatte einfach Glück gehabt, jemanden kennen zu lernen, der ihr den Weg ins Berufsleben freischaufelte. Keiner leckte sich die Finger nach Studienabsolventen, Katinka hatte es am eigenen Leib zu spüren bekommen. Das Gefühl, bewertet, kritisiert und weggebissen zu werden, war Bestandteil ihrer eigenen Erfahrungen. Versonnen rief sie sich ihre Anfänge als Privatdetektivin in Erinnerung. Ein Zusammenstoß mit den Autoritäten in Gestalt der kompromisslosen Oberkommissarin Johanna Winkler hätte sie beinahe aus dem neu gewählten Beruf getrieben. Sie hatte an sich gezweifelt, auf eine bittere, beinahe selbstzerstörerische Art. Aber dann war Hauptkommissar Harduin Uttenreuther auf der Bildfläche erschienen, ein Mensch mit gesunder Neugier. Ein Fels an
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