Schockwelle
Himmel im Osten wurde bereits hell, als sie sich der Vordertür näherten. Die Suche dauerte zu lange. Wenn erst der Morgen dämmerte, würde man sie mit Sicherheit entdecken. Sie mußten sich sputen, wenn sie die Jungs finden, sich zur Jacht durchschlagen und mit Arthur Dorsetts privatem Helikopter fliehen wollten, solange es noch einigermaßen dunkel war.
Heimlich, still und leise ins Haus einzudringen, kam diesmal nicht in Frage. Pitt begab sich zur Haustür, trat sie mit voller Wucht ein und ging hinein. Er schaltete die Taschenlampe ein, die er dem Wachposten auf der Klippe abgenommen hatte, und sah sich kurz um, dann wußte er Bescheid. Ferguson wohnte hier. Auf dem Schreibtisch lag ein Stapel Post, die an ihn adressiert war, daneben ein Kalender mit Eintragungen. In einem Schrank stieß Pitt auf ordentlich gebügelte Hosen und Sakkos.
»Niemand daheim«, sagte er. »Jack Ferguson ist weg.
Nirgendwo ein Koffer zu sehen, und die Hälfte der Kleiderbügel im Schrank ist leer.«
»Er muß dasein«, sagte Maeve irritiert.
»Den Eintragungen in seinem Kalender zufolge ist Ferguson auf Dienstreise zu den anderen Minen deines Vaters.«
Fassungslos und voller Verzweiflung starrte sie in das verlassene Zimmer. »Meine Jungs sind weg. Wir kommen zu spät. O mein Gott, wir kommen zu spät. Sie sind tot.«
Pitt legte den Arm um sie. »Sie sind genauso lebendig wie du und ich.«
»Aber John Merchant –«
Giordino stand in der Tür. »Trau niemals einem Mann mit stechendem Blick.«
»Verschwenden wir hier keine weitere Zeit«, sagte Pitt und zwängte sich an Giordino vorbei. »Die Jungs sind im Herrenhaus, und da sind sie auch immer gewesen, soviel steht fest.«
»Du konntest unmöglich wissen, daß Merchant gelogen hat«, wandte sich Maeve herausfordernd an Pitt.
Er lächelte. »Oh, aber Merchant hat nicht gelogen. Du warst es doch, die gesagt hat, daß die Jungs bei Jack Ferguson im Gästehaus wohnen. Merchant hat sich lediglich daran gehalten.
Vermutlich hat er gedacht, wir sind so blöde und kaufen es ihm ab. Tja, vielleicht haben wir das ja auch, aber nur für eine Sekunde.«
»Du hast es gewußt?«
»Es versteht sich von selbst, daß dein Vater deinen Söhnen nichts antun würde, sosehr er auch damit drohen mag. Ich wette, daß sie in deinem ehemaligen Zimmer stecken, wo sie auch die ganze Zeit über waren, und sich mit einem Haufen Spielsachen amüsieren, die ihnen der gute Großpapa geschenkt hat.«
Maeve blickte ihn verwirrt an. »Er hat sie nicht gezwungen, in den Minen zu arbeiten?«
»Wahrscheinlich nicht. Er hatte lediglich vor, dich zu quälen und deine Muttergefühle zu verletzen. Deswegen hat er dir weisgemacht, daß deine Kinder leiden. Der dreckige Mistkerl wollte, daß du bis zum bitteren Ende glaubst, er würde die Zwillinge versklaven, sie in die Obhut eines sadistischen Vorarbeiters geben, wo sie sich zu Tode schuften müssen. Denk doch mal nach. Da Boudicca und Deirdre kinderlos sind, sind deine Jungs die einzigen Erben. Er dachte sich, wenn du aus dem Weg bist, könnte er die Jungs nach seinen Vorstellungen aufziehen und formen. Ein Schicksal, das deiner Ansicht nach wohl schlimmer ist als der Tod.«
Maeve schaute Pitt lange an. Sie wirkte zunächst ungläubig, dann schien sie zu begreifen, und schließlich erschauderte sie.
»Was bin ich doch für ein Dummkopf.«
»Klasse Songtitel«, sagte Giordino. »Ich möchte ja die gute Stimmung nicht verderben, aber drüben im Haus wacht man um diese Zeit auf.« Er deutete auf die erleuchteten Fenster des Herrenhauses.
»Mein Vater steht immer vor dem Morgengrauen auf«, sagte Maeve. »Er hat nie geduldet, daß meine Schwestern und ich nach Sonnenaufgang noch schlafen.«
»Was würde ich doch drum geben, wenn ich mit am Frühstückstisch sitzen könnte«, stöhnte Giordino.
»Auch auf die Gefahr hin, daß ich wie das ewige Echo klinge«, sagte Pitt, »aber wir müssen reinkommen, ohne daß die Bewohner etwas spitzkriegen.«
»Sämtliche Zimmer im Herrenhaus haben eine Hintertür, aber die führen alle nur auf die Veranden im Innenhof. Mit einer Ausnahme. In Papas Arbeitszimmer gibt es einen Seitenausgang zum Squashplatz.«
»Was ist ein Squashplatz?« erkundigte sich Giordino.
»Ein Platz, auf dem man Squash spielt«, antwortete Pitt. Dann wandte er sich an Maeve. »Wie kommt man zu deinem alten Schlafzimmer?«
»Durch den Garten und am Swimmingpool vorbei zum Ostflügel. Die zweite Tür rechts.«
»Dann nichts wie hin. Ihr zwei
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