Schockwelle
Antarktisexpedition, deren Schiff 1859 vom Packeis zermalmt worden war. Zwei Winter hatten sie überlebt, ehe ihre Nahrungsmittelvorräte zur Neige gingen und sie einer nach dem anderen jämmerlich verhungerten. Über ein Jahrzehnt lang galten sie als verschollen, bis ihre guterhaltenen Leichen 1870 von Briten entdeckt wurden, die hier eine Walfangstation einrichteten.
Weitere Männer starben und wurden unter den Felsen von Seymour Island zur ewigen Ruhe gebettet. Sie fielen Krankheiten zum Opfer oder kamen bei Unfällen um, die sich während der Walfangsaison immer wieder ereigneten. Einige verloren ihr Leben, als sie zu Fuß von der Station aufbrachen, von einem Sturm überrascht wurden und im eisigen Wind erfroren. Erstaunlicherweise waren ihre letzten Ruhestätten gut gekennzeichnet. Die Besatzungen der Walfangschiffe, die im Packeis festsaßen, meißelten während der langen Wintermonate Inschriften in große Steinblöcke, die sie über den Gräbern errichteten. Als die Briten 1933 die Station aufgaben, ruhten sechzig Leichen auf diesem trostlosen Flecken Land.
Niemals hätten sich die Forscher und Seeleute, deren Geister auf diesem unwirtlichen Eiland umgingen, vorgestellt, daß ihre letzte Ruhestätte eines Tages von Buchhaltern und Anwälten, Handwerkern, Hausfrauen und Rentnern heimgesucht würde, die auf luxuriösen Kreuzfahrtschiffen anreisten, die behauenen Steine begafften und die Pinguine bestaunten, die einen Teil der Küste bevölkerten. Vielleicht, aber nur vielleicht, legte sich der Fluch dieser Insel auch auf diese Eindringlinge.
Die ungeduldigen Passagiere an Bord des Kreuzfahrtschiffes konnten an Seymour Island nichts Bedrohliches erkennen. Von ihrem schwimmenden Palast aus , der ihnen Sicherheit und jeden erdenklichen Komfort bot, sahen sie lediglich ein abgelegenes, unberührtes und geheimnisvolles Eiland, das aus der blau funkelnden See aufragte. Sie waren allenfalls gespannt auf ein neues Erlebnis, zumal sie mit zu den ersten Touristen zählten, die jemals den Fuß auf Seymour Island setzen sollten. Es war der dritte von fünf Landausflügen auf dieser Kreuzfahrt zwischen den Inseln entlang der antarktischen Küste, gewiß nicht der reizvollste, aber einer der interessantesten, so jedenfalls stand es in den Prospekten des Reiseveranstalters.
Viele hatten bereits Europa und den pazifischen Raum bereist, hatten die üblichen exotischen Orte gesehen, zu denen es Touristen aus aller Welt zieht. Jetzt wollten sie etwas anderes, etwas Ausgefalleneres ansteuern: ein Reiseziel, das nur wenige vor ihnen gesehen hatten, einen abgelegenen Ort, den man besichtigen konnte, um sich hinterher vor Freunden und Nachbarn damit zu brüsten.
Als sie sich erwartungsvoll in der Nähe der Bordleiter an Deck drängten und ihre Teleobjektive auf die Pinguine richteten, mischte sich Maeve Fletcher unter sie und überprüfte, ob alle die orangeroten Kälteschutzjacken und die für die kurze Fahrt vom Schiff zum Strand vorgeschriebenen Schwimmwesten angelegt hatten, die von der Besatzung des Kreuzfahrtschiffes ausgeteilt worden waren.
Forsch und schwungvoll widmete sie sich ihren Schutzbefohlenen und bewegte sich dabei so federnd und geschmeidig, wie es nur jemand fertigbringt, der seinen Körper in jahrelangem hartem Training gestählt hat. Sie überragte die Frauen um Haupteslänge und war größer als die meisten Männer. Ihr Haar, das sie zu zwei Zöpfen geflochten hatte, schimmerte so gelb wie Schwertlilien im Sommer. Dunkelblaue Augen blickten aus einem energischen Gesicht mit hohen Wangenknochen. Ihr Mund schien stets zu einem freundlichen Lächeln geöffnet, so daß man die kleine Lücke zwischen den oberen Schneidezähnen sah. Durch die goldbraune Haut wirkte sie gesund und unverwüstlich, als triebe sie sich viel in der freien Natur herum.
Maeve war siebenundzwanzig Jahre alt und diplomierte Zoologin. Nach dem Universitätsabschluß hatte sie einen dreijährigen Forschungsurlaub genommen, weil sie Erfahrungen in der Feldforschung sammeln wollte, und die Lebensweise der Vögel und Säugetiere der Polargebiete erkundet. Danach war sie in ihre australische Heimat zurückgekehrt und hatte ihre Doktorarbeit gerade zur Hälfte geschrieben, als man ihr einen zeitlich befristeten Job als Naturkundlerin und Expeditionsleiterin bei Ruppert & Saunders angeboten hatte, einer auf Abenteuerreisen spezialisierten Kreuzfahrtlinie mit Sitz in Adelaide. Es war eine einmalige Gelegenheit, so viel Geld zu verdienen, daß
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