Schockwelle
Angestellter in ein spartanisch eingerichtetes Büro geleitete und ihm einen Stuhl sowie eine Tasse Tee anbot.
Eine Minute verstrich, ehe ein kleiner Mann mit einem graumelierten, über die Brust wallenden Bart und einem langen Gehrock durch eine Nebentür eintrat. Er lächelte höflich und entbot ihm die Hand.
»Levi Strouser. Womit kann ich Euch zu Diensten sein?«
»Mein Name ist Abner Carlisle. Ein Freund, Kapitän Charles Scaggs, hat mich zu Euch geschickt.«
»Kapitän Scaggs hat einen Boten gesandt, der Euer Kommen ankündigte. Es ist mir eine Ehre, den berühmtesten Kaufmann von Aberdeen in meinen bescheidenen Geschäftsräumen empfangen zu dürfen.«
»Sind wir uns schon einmal begegnet?«
»Wir verkehren nicht unbedingt in den gleichen gesellschaftlichen Kreisen, und Ihr seid nicht der Mann, der Edelsteine kauft.«
»Meine Frau ist früh verstorben, und ich habe mich nicht wieder verheiratet. Daher bestand für mich kein Anlaß, teuren Tand zu erwerben.«
»Auch ich habe in jungen Jahren ein Weib verloren. Doch das Glück war mir hold, und ich fand eine bezaubernde Frau, die mir vier Söhne und zwei Töchter schenkte.«
Carlisle hatte im Lauf der Jahre häufig geschäftliche Beziehungen zu jüdischen Kaufleuten gepflegt, doch er hatte noch nie mit Edelsteinen gehandelt. Auf diesem Gebiet kannte er sich nicht aus, und dementsprechend unbehaglich war ihm bei Strouser zumute. Er zückte den Lederbeutel und legte ihn auf den Schreibtisch.
»Kapitän Scaggs bittet um Euer Urteil bezüglich dieser Steine.«
Strouser legte ein weißes Blatt Papier auf den Schreibtisch und kippte den Inhalt des Beutels darüber aus. Er zählte die Steine. Es waren achtzehn Stück. Er ließ sich Zeit und untersuchte einen nach dem anderen mit seiner Juwelierslupe.
Schließlich nahm er den größten und den kleinsten Stein und hielt sie mit beiden Händen hoch.
»Wenn Ihr Euch freundlicherweise etwas gedulden möchtet, Mr. Carlisle, könnte ich ein paar Versuche mit diesen beiden Steinen vornehmen. Einer meiner Söhne wird Euch noch einen Tee bringen.«
»O ja, vielen Dank. Ich kann durchaus warten.«
Fast eine Stunde verstrich, ehe Strouser mit den beiden Steinen zurückkehrte. Carlisle war ein aufmerksamer Beobachter und guter Menschenkenner. Er mußte es sein, immerhin hatte er in vie len tausend Geschäften erfolgreich verhandelt, seit er im zarten Alter von zweiundzwanzig Jahren sein erstes Schiff erstanden hatte. Er bemerkte, daß Levi Strouser nervös war. Man sah es nicht auf Anhieb – die Hände zitterten nicht, kein Zucken in den Augenwinkeln, keine Schweißperlen. Aber seine Augen verrieten ihn, Strouser sah aus, als hätte er gerade Gott geschaut.
»Darf ich fragen, woher diese Steine stammen?« fragte Strouser.
»Den genauen Herkunftsort kann ich Euch nicht sagen«, antwortete Carlisle wahrheitsgemäß.
»Die indischen Minen sind erschöpft, und aus Brasilien kommt nichts dergleichen. Könnte es sich um eins der neuen Vorkommen in Südafrika handeln?«
»Das vermag ich nicht zu sagen. Warum? Sind diese Steine etwas wert?«
»Wißt Ihr denn nicht, was sie sind?« fragte Strouser erstaunt.
»Mit Mineralien kenne ich mich nicht aus. Mein Fachgebiet ist der Seehandel.«
Wie ein Zauberer aus alten Zeiten breitete Strouser eine Hand über den Steinen aus. »Mr. Carlisle, das sind Diamanten! Die reinsten Rohlinge, die ich jemals zu Gesicht bekommen habe.«
Carlisle ließ sich sein Erstaunen nicht anmerken. »Ich zweifle Eure Kennerschaft keineswegs an, Mr. Strouser, aber ich kann gar nicht glauben, daß Ihr das ernst meint.«
»Meine Familie handelt seit fünf Generationen mit Edelsteinen, Mr. Carlisle. Ihr dürft mir ruhig glauben, wenn ich Euch sage, daß Ihr hier auf meinem Schreibtisch ein Vermögen liegen habt. Allem Anschein nach sind sie nicht nur perfekt, was Transparenz und Reinheit angeht, sondern sie besitzen auch eine ganz exquisite und sehr außergewöhnliche rosaviolette Tönung.
Aufgrund ihrer Schönheit und ihrer Seltenheit erzielen sie weitaus höhere Preise als die reinen, farblosen Steine.«
Carlisle fand allmählich die Fassung und seinen Geschäftssinn wieder. »Was sind sie wert?«
»Rohlinge einzuschätzen ist nahezu unmöglich, da sich ihr wahrer Wert erst beim Schneiden und Schleifen offenbart und ihre ganze Schönheit erst zu voller Geltung gelangt, wenn sie facettiert sind. Eure kleinsten Steine haben im Rohzustand rund sechzig Karat.« Er schwieg einen Moment und hielt
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