Schockwelle
vierjähriges Kind, dachte sie.
Der Meeresboden war jetzt deutlich zu erkennen – nackte Steine ohne den geringsten Bewuchs. In etwa zwei Faden Tiefe konnten sie den Schatten des Bootes sehen, als sie durch die Bucht fuhren.
Keinerlei Brandung brach sich am Strand, die See lief glatt und ruhig aus, schwappte leise um die bloßliegenden Felsen und strömte wieder zurück. Der Bootsführer stellte den Außenborder ab, als der Bug des Zodiac über den Strand schrammte. Das einzige Lebewesen, das weit und breit zu sehen war, war ein strahlend weißer Sturmvogel, der wie eine große Schneeflocke über ihnen dahinsegelte.
Erst nachdem sie allen beim Aussteigen geholfen hatte und ihre Schutzbefohlenen in den kniehohen Gummistiefeln, mit denen man sie an Bord ausgestattet hatte, an Land gewatet waren, drehte Maeve sich um und schaute zu dem Schiff, das langsam Fahrt aufnahm und gen Norden davondampfte.
Die
Polar Queen
war ziemlich klein für ein Kreuzfahrtschiff.
Sie war nur zweiundsiebzig Meter lang und hatte ganze zweitausend fünfhundert Bruttoregistertonnen. Sie war im norwegischen Bergen gebaut worden und eigens für Kreuzfahrten in polaren Gewässern konstruiert. Sie war robust wie ein Eisbrecher und konnte, wenn nötig, auch als solcher eingesetzt werden. Die Aufbauten und der breite Längsstreifen unter dem Unterdeck waren gletscherweiß gestrichen. Der übrige Schiffskörper war knallgelb. Dank der Strahlruder an Bug und Heck war sie ungemein wendig und konnte großen Treibeisschollen und Eisbergen jederzeit ausweichen. Die behaglichen Kabinen mit den großen, aufs Meer gerichteten Panoramafenstern waren wie Skihütten eingerichtet. Darüber hinaus gab es an Bord einen luxuriösen Salon, einen Speisesaal, in dem man verköstigt wurde wie in einem Drei-Sterne-Restaurant, einen großen Fitneßraum und eine Bibliothek voller Bücher und Broschüren über die Polarregion. Die Besatzung war erstklassig ausgebildet und zählte zwanzig Leute mehr als die Touristenschar.
Maeve kam sich seltsam verloren vor, als die gelbweiße
Polar Queen
immer kleiner wurde und schließlich in der Ferne verschwand. Sie konnte ihre unguten Gefühle zwar nicht recht begreifen, aber einen Moment lang konnte sie gut nachempfinden, wie den norwegischen Forschern zumute gewesen sein mußte, als sie mit ansehen mußten, wie das Schiff, von dem ihr Überleben abhing, auf Nimmerwiedersehen verschwand. Sie riß sich von diesen düsteren Gedanken los und führte die schnatternde Touristenschar durch die graue Mondlandschaft zum Friedhof.
Sie ließ sie zwanzig Minuten lang auf eigene Faust zwischen den Grabsteinen auf Erkundungstour gehen und ganze Filmrollen mit den Inschriften vollknipsen. Dann führte sie sie zu einem riesigen Haufen ausgeblichener Walfischknochen unmittelbar neben der alten Station und schilderte ihnen, wie man seinerzeit die Wale verarbeitet hatte.
»Wenn die gefährliche und ungemein anstrengende Jagd vorbei und das Tier verendet war«, so erklärte sie, »kam die eigentliche Drecksarbeit. Der riesige Leib mußte ausgeschlachtet und der Walfischspeck zu Tran zerlassen werden. ›Reinsäbeln‹ und ›rausholen‹ nannten das die alten Walfänger.«
Danach waren die alten Hütten und die baufälligen Gebäude an der Reihe. Die Walfangstation, mittlerweile gehegt und gepflegt wie ein Museum, wurde von den Briten nach wie vor jährlich kontrolliert und in Schuß gehalten. Das Mobiliar, die Kücheneinrichtung, die alten Bücher und die zerfledderten Zeitschriften – alles sah noch genauso aus, wie es die Walfänger verlassen hatten, als sie ein letztes Mal von hier aus in See stachen.
»Bitte berühren Sie die Gegenstände nicht«, wies Maeve ihre Gruppe an. »Jeder Verstoß wird nach internationalem Recht streng verfolgt.« Sie schwieg einen Moment und zählte ihre Schutzbefohlenen. Dann sagte sie: »Und jetzt führe ich Sie in die Höhlen, die die Walfänger gegraben haben. Dort verstauten sie die riesigen Fässer mit dem Tranöl, bevor sie es nach England brachten.«
Sie griff in eine Kiste, die vom Expeditionsleiter einer früheren Kreuzfahrt neben dem Höhleneingang deponiert worden war, holte die Taschenlampen heraus und verteilte sie.
»Leidet hier irgend jemand an Klaustrophobie?«
Eine Frau, die aussah wie Ende Siebzig, hob die Hand. »Ich glaube, ich geh’ da lieber nicht rein.«
»Sonst noch jemand?«
Die Frau, die ihr Löcher in den Bauch gefragt hatte, nickte.
»Ich kann Kälte und Dunkelheit nicht
Weitere Kostenlose Bücher