Schockwelle
Giordino.
Im nächsten Moment zog Pitt den Hubschrauber auf Parallelkurs zu den wogenumspülten Klippen und begann mit der Umkreisung des öden Eilands. Giordino zuckte plötzlich zusammen und starrte wie gebannt nach vorn. »Siehst du das?«
Pitt wandte den Blick kurz von der schäumenden Brandung am Fuß der Felsen ab und schaute durch die Kanzelverglasung nach vorn. »Ich sehe nirgendwo Treibgut.«
»Nicht aufs Wasser. Wirf mal einen Blick über diesen hohen Felsgrat, der unmittelbar vor uns liegt.«
Pitt musterte die seltsame Felsformation, die aus dem Hauptmassiv herausragte und wie ein von Menschenhand errichteter Wellenbrecher zum Meer abfiel. »Meinst du den kleinen weißen Schneefleck hinter dem Grat?«
»Das ist kein Schneefleck«, sagte Giordino entschieden.
Plötzlich begriff Pitt, was es war. »Jetzt hab’ ich’s!« versetzte er aufgeregt. Es war weiß, ebenmäßig geformt und sah aus wie ein Kegel mit abgeschnittener Spitze. Der obere Rand war schwarz, und auf der Seite prangte eine Art Emblem. »Ein Schiffsschornstein. Und dort, etwa vierzig Meter davor, ragt die Radarantenne auf. Klasse gemacht, alter Junge.«
»Wenn es die
Polar Queen
ist, muß sie hinter dem vorspringenden Fels auf die Klippen gelaufen sein.«
Doch sie täuschten sich. Als sie den zur See abfallenden steinernen Wall überflogen, konnten sie erkennen, daß das Kreuzfahrtschiff unbeschadet rund fünfhundert Meter von der Insel entfernt dahintrieb. So unglaublich es war, es hatte bislang keinen Kratzer abbekommen.
»Noch hält sie klar!« schrie Giordino.
»Aber nicht mehr lange«, sagte Pitt. In Sekundenschnelle hatte er die Lage erfaßt. Die
Polar Queen,
deren Ruder irgendwie auf hart Steuerbord verklemmt sein mußte, fuhr in großen Kreisen. Wenn sie diesen Kurs beibehielt, würde sie in knapp einer halben Stunde am blanken Fels zerschellen und mit Mann und Maus in der eisigen Tiefe versinken.
»Ich sehe Menschen an Bord«, sagte Giordino.
Einige lagen auf dem Brückendeck, andere auf dem Sonnendeck in der Nähe des Hecks. In einem Zodiac, der noch am Fallreep vertäut war und durch die Dünung geschleppt wurde, entdeckten sie zwei weitere. Alle waren von einer dünnen Schicht Eis und Schnee bedeckt, was deutlich verriet, daß keiner mehr am Leben war.
»Noch zwei solche Kreise, und sie knallt auf die Felsen«, sagte Giordino.
»Wir müssen runter und zusehen, daß wir irgendwie den Kurs ändern.«
»Nicht bei dem Wind«, versetzte Giordino. »Wir können allenfalls auf dem Dach über dem Brückendeck landen, und das ist mir zu kitzlig. Sobald wir das Tempo wegnehmen und zur Landung ansetzen, werden wir herumgebeutelt wie ein dürres Blatt. Ein jäher Fallwind, und wir landen in der Suppe da drunten.«
Pitt löste die Sicherheitsgurte. »Dann fliegst du die Kiste, und ich seil’ mich mit der Winde ab.«
»Man hat schon Leute in die Gummizelle gesteckt, die weniger verrückt waren als du. Du wirst da unten rumgeschleudert wie ein Jo-Jo.«
»Fällt dir eine andere Möglichkeit ein?«
»Nur eine. Aber die ist auch nicht ganz astrein.«
»Die Landung auf dem Schlachtschiff bei der Cargo-Affäre«, erinnerte sich Pitt.
»Noch so ein Fall, bei dem du mehr Glück als Verstand gehabt hast«, sagte Giordino.
Pitt hatte sich bereits entschieden. Das Schiff mußte unweigerlich auf die Felsen prallen, und sobald der Kiel aufgeschlitzt war, würde es untergehen wie ein Stein. Aber vielleicht hatte jemand die Katastrophe überlebt, so wie Maeve und ihre Landausflügler. Fest stand jedenfalls, daß die Leichen untersucht werden müßten, wenn man die Todesursache jemals feststellen wollte. Solange es auch nur die geringste Chance gab, die
Polar Queen
zu retten, mußte er es versuchen.
Pitt blickte Giordino mit einem leichten Lächeln an. »Wird höchste Zeit, daß sich der wackere junge Mann aufs Trapez schwingt.«
Pitt trug bereits die aus dickem Nylonflor bestehende Thermounterwäsche, die seine Körperwärme speicherte und ihm Schutz vor den frostigen Außentemperaturen bot. Darüber zog er einen Trockentauchanzug mit Spezialisolierung für polare Gewässer. Der Tauchanzug diente einem doppelten Zweck:
Erstens schützte er ihn vor dem eisigen Wind, während er unter dem fliegenden Helikopter baumelte, und zweitens konnte er damit im kalten Wasser so lange überleben, bis er gerettet wurde, falls er zu früh oder zu spät abspringen und das Schiff verfehlen sollte.
Er schnallte das Schnellabwurfgeschirr um und
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