Schockwelle
passiert. Maeve wandte sich ab, war wütend auf sich. Sie konnte es nicht fassen, daß sie ungebeten in die Unterkunft eines Mannes eindrang. Sie kannte Pitt kaum. Er war wenig mehr als ein Fremder. Aber Maeve war eine zielstrebige Frau, die es gewohnt war, ihren Weg zu gehen.
Ihr Vater, Oberhaupt eines internationalen Bergbauunternehmens, hatte Maeve und ihre Schwestern wie Jungen aufgezogen.
Ohne Puppen, schicke Kleider oder Debütantinnenbälle. Seine verstorbene Frau hatte ihm statt der erhofften männlichen Erben seines Firmenimperiums drei Töchter geschenkt, doch er hatte einfach dem Schicksal getrotzt und sie zur Härte erzogen. Als Maeve achtzehn war, konnte sie einen Fußball weiter treten als die meisten Jungs in ihrer Klasse, und einmal war sie lediglich in Begleitung eines Hundes, eines zahmen Dingos, von Canberra nach Perth gezogen, quer durch das australische Hinterland – eine Leistung, die ihr Vater belohnte, indem er sie kurzerhand von der Schule nahm und Seite an Seite mit rauhbeinigen, kraftstrotzenden Schürfern und Sprengmeistern in den familieneigenen Minen schuften ließ.
Sie begehrte auf. Es war kein Leben für eine Frau, die andere Wünsche hatte. Sie lief davon, schrieb sich auf der Universität in Melbourne ein, schlug sich durchs Studium und wurde Zoologin. Ihr Vater machte keine Anstalten, sie in den Schoß der Familie zurückzuholen. Er sorgte lediglich dafür, daß sie keinerlei Ansprüche auf das Familienvermögen geltend machen konnte, und als sechs Monate nach dem Ende einer wunderbaren, aber recht kurzen Beziehung mit einem Jungen aus demselben Seminar ihre unehelichen Zwillinge zur Welt kamen, tat er so, als gäbe es sie nicht mehr. Der Vater ihrer Kinder war der Sohn eines Schafzüchters, braungebrannt von der grellen Sonne des australischen Hinterlandes, kräftig gebaut und mit sensiblen grauen Augen. Sie hatten gelacht, miteinander geschlafen und sich ständig gestritten. Als es kam, wie es kommen mußte, und sie sich trennten, hatte sie ihm kein Wort davon gesagt, daß sie schwanger war.
Maeve stellte Flasche und Gläser auf das Schreibpult und starrte auf die persönlichen Habseligkeiten, die achtlos zwischen einem Stapel Papiere und einer Seekarte lagen. Sie warf einen Blick in die volle Rindslederbrieftasche, in der allerlei Kredit-, Visiten- und Mitgliedskarten, zwei unausgefüllte Schecks sowie hundertdreiundzwanzig Dollar in bar steckten. Merkwürdig, dachte sie, keinerlei Bilder. Sie legte die Brieftasche wieder auf den Schreibtisch und musterte die anderen Gegenstände, eine offenbar vielgetragene Doxa-Taucheruhr mit orangefarbenem Zifferblatt und einem Armband aus rostfreiem Stahl sowie diverse Haus- und Autoschlüssel.
Kaum genug, um etwas über den Besitzer zu verraten, dachte sie. Es hatte andere Männer gegeben, die in ihr Leben getreten und wieder verschwunden waren, manche auf ihren Wunsch hin, ein paar von sich aus. Aber alle hatten etwas von sich hinterlassen. Dieser Mann hingegen schien einsam seines Weges zu gehen und nichts zurückzulassen.
Sie trat durch die Tür in sein Schlafquartier. Der Spiegel über dem Waschbecken im dahinterliegenden Badezimmer war noch beschlagen, ein Zeichen dafür, daß der Bewohner unlängst gebadet hatte. Sie roch einen feinen Hauch Aftershave, ein Duft, der ein leichtes Kribbeln in ihrem Bauch auslöste.
»Mr. Pitt!« rief sie erneut, aber nicht lauter als zuvor. »Sind Sie da?«
Dann sah sie den lang ausgestreckten Männerleib auf dem Bett, die Arme locker über der Brust verschränkt, so als läge er in einem Sarg. Sie seufzte erleichtert, als sie sah, daß sein Unterleib mit einem Handtuch bedeckt war. »Tut mir leid«, sagte sie ganz leise. »Ent schuldigen Sie die Störung.«
Pitt schlief ungerührt weiter.
Ihr Blick wanderte von seinem Kopf hinab zu den Füßen. Die dichten schwarzen Locken waren noch feucht und zerzaust. Er hatte kräftige, nahezu buschige Augenbrauen, die über der geraden Nase fast zusammenwuchsen. Sie schätzte ihn auf etwa vierzig, obwohl er aufgrund der herben Züge, der gebräunten, wettergegerbten Haut und der kantigen, energischen Kinnlade älter aussah. Die kleinen Fältchen um Augen und Mund zauberten einen freundlichen Ausdruck auf sein Gesicht. Es war ein markantes Gesicht, ein Gesicht, das auf Frauen anziehend wirkte. Er sah aus wie ein Mann, der über Kraft und Entschlossenheit verfügte, ein Mann, der das Leben von seinen besten und von seinen schlimmsten Seiten erlebt hatte,
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