Schön scheußlich
Völkern wie den Basken oder den Keten und Giljaken (Niwchen) Sibiriens gelten soll. Aus den chemischen Runen der Gene hoffen die Forscher, Antworten auf Fragen von evolutionärer, linguistischer und anthropologischer Bedeutung lesen zu können: Woher kamen die modernen Menschen? Wie sind sie um den Globus gewandert? Gibt es irgendeine Korrelation zwischen genetischen Veränderungen und sprachlichen Variationen? Und sind die unterschiedlichen Krankheitshäufigkeiten in verschiedenen Ländern durch genetische Unterschiede zu erklären? Dr. King verbringt allmonatlich mehrere Tage in Washington, um Geld und Unterstützung für dieses äußerst komplexe Projekt einzuwerben.
Diese bunt gescheckte Sammlung an Projekten wird von einem relativ kleinen Labor von zwanzig Leuten, Dr. King mitgerechnet, betreut. Obendrein lehrt sie an der Universität und hält einen Anfängerkurs in Genetik für Nichtnaturwissenschaftler. Sie sieht ihre Lehrverpflichtungen keineswegs als Frondienst, sondern betrachtet sie als Vergnügen, was für jemanden in der Forschung durchaus ungewöhnlich ist. Darüber hinaus bringt sie es fertig, für ihr Alter jung auszusehen - sie trägt einen dunklen Haarschopf, der durch seine Fülle fast unbeweglich wirkt. Ob sie sich nie überfordert fühlt? »Natürlich fühle ich mich überfordert!«, erwidert sie mit sich überschlagender Stimme und klingt dabei ein bisschen wie Julia Child. »Was hat Überforderung damit zu tun?« Sie geht und spricht dermaßen rasch, dass man im Vergleich dazu von sich selbst das Gefühl bekommt, in Kunstharz eingegossen zu sein.
Ihren wissenschaftlichen Stil führt Dr. King auf ihren Mentor und Promotionsbetreuer Dr. Allan Wilson zurück, einen intellektuellen Unruhestifter ersten Ranges, der im Jahr 1991 im Alter von fünfundsiebzig Jahren an Krebs starb. Dr. Wilson wurde durch seine Arbeiten über die so genannte genetische Eva berühmt, eine Frau, die vor ungefähr hunderttausend Jahren in Afrika lebte und der Theorie zufolge die Mutter aller heute existierenden Menschen ist. Wer in Dr. Wilsons Labor gearbeitet hat, beherrscht die Kunst, evolutionäre Rätsel mit molekularer Artillerie anzugehen. Das Labor befasste sich in diesem Zusammenhang vor allem mit den Genen der Mitochondrien, der winzigen Kraftwerke der Zelle. Dr. Wilson war es auch, der Dr. King davor bewahrte, die Wissenschaft aufzugeben, noch bevor sie richtig damit begonnen hatte. »Nie kriegte ich meine Projekte ins Laufen, ich war wirklich deprimiert und durcheinander«, erinnert sie sich. »Er meinte, wenn jeder, der sein Vorhaben nicht in Gang bekommt, aus der Wissenschaft ausscheiden würde, gäbe es schon längst keine Wissenschaft mehr.« Solchermaßen getröstet, vollendete sie ihre Doktorarbeit und zeigte zu ihrem eigenen Erschrecken und dem der wissenschaftlichen Welt, dass Menschen und Schimpansen über neunundneunzig Prozent ihrer DNS gemein haben. »Ich dachte die ganze Zeit, ich hätte ein negatives Ergebnis, weil ich keine Unterschiede finden konnte«, berichtet sie. »Irgendwann dämmerte es mir, dass dies daran lag, dass es so gut wie keine Unterschiede gab.«
Anschließend ging sie mit ihrem Ehemann, dem Zoologen Robert Colwell nach Chile, wo beide einen Lehrauftrag hatten. Doch nachdem die linke Regierung Salvador Allendes gestürzt worden war, kehrten sie in die Vereinigten Staaten zurück. Dieser Südamerikaerfahrung, ihrer Vertrautheit mit Sprache, Land und Leuten, ist es zu verdanken, dass sie, als die Abuelas de Plaza de Mayo bei ihren Bemühungen um die verlorenen Kinder die Hilfe der Wissenschaft suchten, als Molekulargenetikerin auf den Fall angesetzt wurde. Die Arbeit war ebenso aufreibend wie spannend. Sie erforderte häufige Reisen nach Argentinien, 18-Stunden-Tage und das Rückgrat, sich gegen die finster-ablehnende Haltung des Militärs durchzusetzen. Das argentinische Projekt dauert noch an und wird dies auch in absehbarer Zukunft tun. Bisher sind dreiundfünfzig Kinder wieder mit ihren Familien zusammengeführt worden, weitere einhundertfünfzig aber müssen noch gefunden werden. Inzwischen sind sie junge Erwachsene und können sich überall auf der Welt befinden: in Südamerika, Europa und den Vereinigten Staaten. Das ganze Projekt hindurch ließ Dr. King der Gedanke nicht los, dass die entführten Kinder im selben Alter waren wie ihre eigene Tochter Emily Colwell. Dr. Kings Ehe zerbrach, als Emily fünf Jahre alt war, und es blieb Dr. King überlassen, als junge allein
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