Schön scheußlich
missfällt die weit verbreitete falsche Vorstellung gründlich, derzufolge die Evolution einem Fortschritt gleicht und sämtliche Kreaturen unweigerlich einem immer perfekteren Daseinszustand zuführt. Wenn einer einen Rückschritt auf den ersten Blick erkennt, dann er, und dieses Produkt ist einer. »Erst haben sie richtige Strohhalme durch Plastik ersetzt«, klagt er, »und nun können sie nicht einmal mehr vernünftige Hüllen herstellen. Es ist ein Skandal.« Achselzuckend schnappt er sich einen Plastiklöffel und macht sich über seine Suppe her.
Dr. Gould ist in San Francisco, um für seine sechste Aufsatzsammlung Eight Little Piggies (»Acht kleine Schweinchen«) zu werben. Die meisten dieser Aufsätze wurden in Natural History erstmals veröffentlicht, dem Magazin, das er in den vergangenen neunzehn Jahren Monat für Monat ohne Unterbrechung herausgegeben hat, wie er stolz in einem eben dieser Aufsätze verkündet. Er schreibt auch für andere Magazine, unter anderem für The New York Review of Books, Discover und die britische Zeitschrift Nature. Über einzelne Themenbereiche hat er obendrein Bücher verfasst, unter anderem Zufall Mensch, einen Bestseller über die Neuinterpretation des Burgess-Schiefers, einer Lagerstätte an den Steilhängen der kanadischen Rocky Mountains, in dem sich eine ungeheure Vielfalt an Fossilien aus dem Kambrium, das heißt von vor fünfhundertfünfzig Millionen Jahren, erhalten hat. Er tippt und tippt: Er ist der Anthony Trollope, die Joyce Carol Oates unter den Wissenschaftsautoren. Und er lehrt. In seinen Seminaren an der Harvard University reicht der Platz oft nur zum Stehen. Und er forscht und verfasst Wissenschaftsartikel. Selbst als er vor zehn Jahren an einem Mesotheliom erkrankte - einem in vielen Fällen bösartigen Tumor des Bauchraumes - , vermochte dies Dr. Gould nicht merklich zu bremsen. Er erklärt, dass er nun, da er seine Krankheit besiegt habe, das Werk vollenden wolle, mit dem er vor dem Beginn seiner Erkrankung angefangen hatte: eine ausführliche Neubewertung der darwinschen Evolutionstheorie. So war er schon immer, sagen seine Freunde. Er arbeitet und arbeitet und arbeitet.
Für einen Wissenschaftler ist Dr. Gould eine Berühmtheit, und Passanten, die in der Cafeteria an ihm vorüberschlendern, erkennen ihn, kommen an seinen Tisch, schütteln ihm die Hand und rufen: »Professor Gould! Was treibt Sie nach Kalifornien?« Er ist einer der Pioniere unter den wenigen aktiven Wissenschaftlern, die es für ihre Pflicht und Schuldigkeit hielten, die Freuden der Wissenschaft mit der akademisch ungebildeten Masse zu teilen. Noch kann er nicht auf den monumentalen Verkaufserfolg eines Stephen Hawking zurückblicken, jenes Astrophysikers, dessen Bändchen Eine kurze Geschichte der Zeit sich allein in den Vereinigten Staaten und Kanada über 1,7 Millionen Mal verkaufte und hier und im Ausland jahrelang auf der Bestsellerliste stand. Dr. Gould ist auch nicht Gastgeber seiner eigenen Fernsehshow wie der Astronom Carl Sagan von der Cornell University mit Cosmos. Und wenn auch sein Stil verständlich, manchmal überaus charmant und völlig frei von jeglicher Herablassung ist, so geht ihm doch die Ausstrahlung und Musikalität eines Lewis Thomas - Physiker und Autor von The Lives ofa Cell ab. Dennoch ist der Stephen-Jay-Gould-Fanclub von internationalem Rang. Seine Bücher sind in fünfzehn Sprachen übersetzt worden, unter anderem ins Französische, Japanische, Ungarische, Finnische, Deutsche und Griechische. Seine Schriften haben mehr als die jedes anderen dazu beigetragen, Charles Darwin zu einem Alltagsheiligen, zu einer wissenschaftlichen Lichtgestalt vom Format eines Albert Einstein zu machen.
Dr. Gould schreibt für sein Leben gern, aber Lesereisen verabscheut er, weshalb er sich während seines Besuchs bei der Akademie, Teil der Rundreise, ein bisschen zappelig und unruhig fühlt. Ein Fan, ein junger Mann von ungefähr fünfundzwanzig Jahren, kommt an seinen Tisch herüber und stellt sich vor. Als er geht, fragt Dr. Gould: »Was ist los mit dieser jungen Generation? Wann immer diese Leute etwas sagen, heben sie ihre Stimme zum Satzende an, als würden sie eine Frage stellen. Was immer sie sagen, klingt so, als wenn sie dafür Bestätigung suchen.« Er tut so, als hielte er einen Telefonhörer in der Hand : »Ungefähr so: ,Hallo? Dr. Gould? Hier spricht Amy? Von der AP?' Ist ja gut, also ich habe wirklich keinen Augenblick daran gezweifelt.«
Bei der
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