Schön scheußlich
Untersuchungen an Ratten, Hasen, Feldmäusen, Schafen und anderen Tieren haben gezeigt, dass das Hormon auf viele Gehirnregionen wirkt und auf sexuelles wie fürsorglich-zärtliches Verhalten Einfluss hat. Die Experimente legen die Vermutung nahe, dass Oxytozin das Signal ist, das den Organismus reagieren und einen Partner aufspüren lässt, sobald der Körper durch Sexualhormone wie Östrogen und Testosteron auf Fortpflanzung eingestellt worden ist. Im Rahmen einer Studie haben Forscher von der Rockefeller University in New York entdeckt, dass Mäuseweibchen, denen man während des Eisprungs eine zusätzliche Dosis Oxytozin verabreicht, zu sechzig bis siebzig Prozent engagierter dafür sorgen, dass sie von einem Männchen bestiegen werden, als Weibchen ohne die Injektion. Immer wieder biegt das Weibchen begehrlich seinen Rücken durch und bietet sein Hinterteil auf berückendste Weise dar. Unter anderen Umständen trägt Oxytozin dazu bei, die Bindung zwischen Eltern und Nachwuchs zu stärken. Rattenmütter, die man mit Oxytozin behandelt hat, nehmen ihre Jungen häufiger hoch und stupsen sie öfter sanft mit der Schnauze an als Rattenweibchen ohne zusätzliches Oxytozin. Rattenväter bauen unter Oxytozineinfluss mit erhöhter Wahrscheinlichkeit ein Nest für ihre Jungen und bewachen diese eifrigst. Sobald man den Männchen jedoch eine Substanz spritzt, die die Aktivität des Oxytozins blockiert, vernachlässigen sie nicht nur die Pflege ihrer Jungen, sondern gehen unter Umständen sogar so weit, die Neugeborenen als bequeme Nahrungsquelle zu betrachten.
Abgesehen von seiner speziellen Wirkung in Bezug auf Sexualität und Fortpflanzung scheint Oxytozin überdies eine allgemein fraternisierende Substanz zu sein. Feldmäuse, die ohnehin schon die Nähe anderer Mäuse suchen, sind von Natur aus darauf eingerichtet, auf Oxytozin zu reagieren. Verabreicht man ihnen zusätzliche Dosen, verbringen die Nagetiere noch mehr Zeit in physischem Kontakt. Es drängt sie zu solcher Nähe, dass sie einander buchstäblich ins Fell kriechen. Bei einer nahen Verwandten jedoch, einer Mausart, die von Natur aus solitär lebt und ihre Artgenossen, von kurzen und knappen sexuellen Kontakten einmal abgesehen, meidet, hat das Gehirn eine ganz andere Architektur und spricht weit weniger leicht auf Oxytozin an. Bei diesen Mäusen versagt der fraternisierende Zauber der Hormoninjektion.
Anhand dieser beiden unterschiedlichen Reaktionen wird vielleicht deutlich, dass der wichtige Aspekt an der Wirkung des Oxytozins weniger die Gesamtmenge an Hormon ist, die durch den Blutkreislauf zirkuliert, als vielmehr die Empfänglichkeit des Gehirns für diese Substanz. Und diese wird im Körper durch ein komplexes Netz von Faktoren wie Sexualhormonen und anderen Proteinen bestimmt.
Oxytozin vermag also beliebig viele Reaktionen auszulösen oder aber überhaupt keine, je nachdem, wie es um das allgemeine biochemische Gleichgewicht des Körpers gerade bestellt ist. Wissenschaftler müssen noch klären, welche Hormonsignale als Anzeichen dafür gelten können, dass Oxytozin eine bestimmte Reaktion auslöst. Man ist der Ansicht, dass Arten ohne Sozialleben höchstwahrscheinlich nicht über die notwendige Ausstattung verfügen, einem hormonellen Aufruf zur Freundschaft Folge zu leisten, während es bei sozial lebenden Arten das Oxytozin ist, das alle zusammenhält.
Beim Menschen ist die Verknüpfung zwischen Oxytozin und Verhalten um einiges subtiler, nichtsdestotrotz aber herausfordernd. Bei zwei Experimenten zu der Frage, welche Rolle Oxytozin bei Männern spielt, hat man herausgefunden, dass der Oxytozinspiegel im Blut im Augenblick vor dem Orgasmus und während der Ejakulation drei-bis fünfmal so hoch ist wie im Normalfall. Es wäre möglich, dass Oxytozin erforderlich ist, um die zum Orgasmus notwendigen Kontraktionen auszulösen. Es wäre auch möglich, dass das Hormon für das mit dem sexuellen Crescendo verbundene intensive Gefühl der Befriedigung verantwortlich ist. Vermutlich ist an beidem etwas dran.
Als weiteren Hinweis auf die Bedeutung von Oxytozin für das sexuelle Verlangen lässt sich der Umstand werten, dass man normalen Erwachsenen, die - in Nachahmung einer verbreiteten sexuellen Funktionsstörung - mit einem Präparat behandelt wurden, das ihr sexuelles Verlangen vermindert, mit ein paar anregenden Oxytozininjektionen wieder zu ihrer gewohnten Energie verhelfen kann. Bislang ist jedoch nicht geklärt, ob Oxytozin auch impotenten
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