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Schön scheußlich

Schön scheußlich

Titel: Schön scheußlich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natalie Angier
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Alzheimer und Parkinson sowie anderen Krankheiten des Alterns beobachten.
    Ein Großteil unserer Einblicke in die Nematodenbiologie ist dem herausragendsten Merkmal dieses Tieres zu verdanken: seiner Durchsichtigkeit. Durch den gläsernen Körper des Fadenwurms können die Genetiker in jedem Stadium der Entwicklung, von der Befruchtung bis zur Reife, beobachten, wie sich Zellen teilen und wieder teilen. Sie wissen, dass alle Würmer über dieselbe Anzahl an Zellen verfügen. Sie wissen, welche Zelle aus welcher hervorgeht, und sie können Abstammungsdiagramme zeichnen, in denen die Herkunft jeder Einzelnen der 959 Zellen ebenso verzeichnet ist wie deren endgültiges Schicksal als Bestandteil des Kopfes, des Nervensystems, des Schwanzes, der Vulva oder wo auch immer.
    Leute, die sich mit Würmern beschäftigen, verfallen häufig in geradezu schwärmerische Liebeserklärungen an das Objekt ihrer Forschung-selbst wenn sie es bereits über Jahre hinweg im Mikroskop beobachtet haben. Mäusebiologen tun so etwas nicht und die Herren der Taufliegen auch nicht. Da Humangenetiker ihre Zeit damit verbringen, menschlichen Erkrankungen nachzuspüren, verfallen sie selten in poetische Hymnen darüber, was für ein exquisites Werk der Mensch doch ist. Außerdem sind die meisten von ihnen ohnehin viel zu sehr damit beschäftigt, Patente für ihre Entdeckungen anzumelden. Doch die Leute von C.elegans erzählen verträumt von der Anmut und Eleganz ihrer Würmer, und dies auf eine Art, dass man sich den schlängelnden kleinen Gesellen fast zum Kuscheln nahe fühlt. Und sie berichten von der niemals nachlassenden Spannung, einen Wurm wachsen und seine Zellen sich teilen zu sehen. Ein Biologe erinnert sich an ein Seminar, das er einst über die Genetik des Wurms hielt. Zusammen mit seinen Studenten saß er eines Samstags um Mitternacht vor dem Videorecorder und schaute sich einen Film über die Embryonalentwicklung von Nematoden an. Ein Dutzend Leute drängte sich vor dem Bildschirm. Sie klatschten und johlten bei jeder neuen Zellteilung. Irgendwann kam jemand vorbei und meinte: »He, um die Ecke steigt 'ne Party", doch die Studenten winkten ab. Sie wollten kein einziges Zittern und Beben der vor ihren Augen wachsenden Zelle versäumen.
    Das Schönscheußliche des Wurms kann jedoch nur zum Teil als Erklärung dafür herhalten, was Dr. Sydney Brenner vom Medical Research Council in Cambridge, England, in den sechziger Jahren dazu veranlasst hat, sich für Nematoden als Versuchstiere zu entscheiden. Bei seinen Untersuchungen zu Fragen der Neurobiologie und Entwicklung benötigte er einen Organismus, der sich als vielzelliges Äquivalent für das Bakterium E. coli eignen würde, dem damaligen Allround Versuchsorganismus. Beim Stöbern in den Zoologielehrbüchern stieß er auf C.elegans, der ihm nicht nur deshalb geeignet schien, weil er durchsichtig und damit leicht zu beobachten war, sondern weil sich in ihm Einfachheit und Komplexität vereinigten. So klein er auch ist und so wenige Neurone er auch besitzen mag, dieser Wurm hat dennoch ein ansehnliches Repertoire an Verhaltensmustern. Er schlängelt sich in begehrlichen Sinuskurven Düften entgegen, die ihm besonders anziehend erscheinen - dem Geruch eines Abfallhaufens beispielsweise, der ihm eine Bakterienmahlzeit verheißt. Er meidet Orte von extrem hoher Salzkonzentration, die ihn austrocknen lassen könnten. Der Fadenwurm vermag Temperatur wahrzunehmen, er meidet Berührungen, und er verfügt über eine biologische Uhr, die ihn alle fünfzig Sekunden daran erinnert, seinen Kot auszuscheiden. Die Männchen verbringen beinahe ebenso viel Zeit mit der Suche nach einem Partner wie mit der Nahrungssuche. Nicht minder wichtig ist, dass der Wurm über ein Sexualsystem verfügt, das für ein außerordentlich hohes Maß an Anpassungsfähigkeit sorgt. Die Männchen können Eier tragende Hermaphroditen befruchten, und Letztere sind biologisch so überaus wertvoll, weil sie selbst ebenfalls in der Lage sind, Spermien zu produzieren. Wenn keine Männchen zugegen sind, können sich die Hermaphroditen selbst befruchten. Es wurde Dr. Brenner rasch klar, dass man aufgrund dieser Tatsache die genetische Information eines Hermaphroditen beliebig verändern könnte, ohne sich darum sorgen zu müssen, dass man damit dessen Paarungseignung durcheinander bringt. Und die Möglichkeit, beliebig an der genetischen Information herumspielen und anschließend die Auswirkungen der Mutationen auf Entwicklung und

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