Schön scheußlich
Verhalten eines Organismus untersuchen zu können, ist in der Genetik der Schlüssel zum Erfolg. Mit Hilfe hermaphroditischer Fadenwürmer können die Genetiker die Weitergabe auch bizarrster Mutationen von einer Generation an die nächste verfolgen. Sie können Muskulatur und Nervensystem bis zu dem Punkt manipulieren, an dem ein Wurm sich nicht mehr bewegen kann und immer noch fortpflanzungsfähig ist, sodass die Vielfalt an Babymutanten, die einer Analyse harrt, schier endlos ist.
Die Leute, mit denen Dr. Brenner arbeitete, konvertierten rasch zur neuen Kirche des Fadenwurms. Einer ihrer aufrichtigsten Anhänger war Dr. John Sulston, der sich in den siebziger und achtziger Jahren ein Jahrzehnt lang der Aufgabe widmete, jenen berühmten Zellstammbaum zu erstellen. Über sein Mikroskop gebeugt, beobachtete er jede einzelne Zellteilung im Lebenszyklus des Fadenwurms und führte darüber ein minutiöses Protokoll. Der Fußboden in seinem Labor zeigt tiefe Eindrücke, ins Linoleum eingegrabene Spuren der Räder seines Laborstuhls, mit dem er zwischen der Präparierlupe, an der er die Würmer zum Betrachten präparierte und einbettete, und dem Beobachtungsmikroskop, wo er zusah, wie die Zellen sich teilten und differenzierten, hin und herpendelte. Junge Nematodenforscher betreten sein Labor, als sei dies ein heiliger Ort, und deuten mit ergriffenem Flüstern auf die Rillen, so wie andere vielleicht auf die Tränenspuren einer Jungfrau Maria deuten würden.
Die Wissenschaft hat inzwischen einen Schritt über die Informationen zur zellulären Abstammung hinaus getan und untersucht nunmehr die Gene, die das Schicksal einer einzelnen Zelle bestimmen. Diese Arbeit hat zur Entdeckung einer beträchtlichen Anzahl von Wurmgenen geführt, die genauso aussehen wie Säugergene. Die Tatsache, dass die Natur diese Gene über Jahrmilliarden der Evolution konserviert hat, spricht sehr dafür, dass sie für Leben und Gesundheit einer Zelle unentbehrlich sind. Zu denjenigen Genen, die man für besonders entscheidend für die Kontrolle zellulären Wachstums hält, gehören die Onkogene. Im Normalzustand regulieren sie Teilung und Reifung einer Zelle, doch wenn sie durch Karzinogene beispielsweise - mutiert werden, können diese Onkogene zumindest bei höheren Tieren wie uns Menschen Krebs verursachen. Die Arbeiten an Nematoden haben wesentlich dazu beigetragen, die Mechanismen der Wirkung von Onkogenen und deren Produkten sowohl im Normalzustand einer gesunden Zelle als auch im Fall einer Störung zu ergründen. So verfügt ein Nematode beispielsweise über seine eigene Version zweier Gene, von denen man annimmt, dass sie an der Entstehung vieler menschlicher Tumoren beteiligt sind. Das eine Gen trägt den Namen ras, das andere enthält die Sequenz des Rezeptors für den epidermalen Wachstumsfaktor EGF. Es hat sich gezeigt, dass diese beiden Gene bei dem hermaphroditischen Wurm eine unentbehrliche Funktion ausüben: Sie arbeiten Hand in Hand, um das Wachstum seiner Genitalien zu fördern. Zunächst wird in drei Zellen des sich entwickelnden Wurmrumpfes das entsprechende Rezeptorgen eingeschaltet. Dieses übermittelt dann ein Signal an das ras-Gen im tiefsten Inneren der drei Zellen, und damit wird ein Sturzbach von Aktivitäten in Gang gesetzt. Fünfzig weitere Gene erwachen zum Leben, und diese befehlen den drei Vorläuferzellen, sich zur Vulva zu teilen, der Öffnung zwischen der Außenwelt des Tiers und seinem Eierstock. Zumindest geschieht das so bei einem gesunden Fadenwurm. Wenn das ras-Gen des Wurmes jedoch künstlich so verändert wird, dass es dem menschlichen Krebsgen gleicht, entsteht bei dem Wurm im Genitalbereich so etwas wie ein Krebsäquivalent: Ihm wachsen mehrere Vulven. Dieses groteske Ergebnis lieferte den Wissenschaftlern nicht nur einen Anhaltspunkt zum Verständnis der Wirkungsweise des ras-Gens, sondern es hat sich auch als überaus ergiebiges Thema auf dem gesellschaftlichen Parkett erwiesen. »Mir ist aufgefallen, dass die Gespräche um mich herum jedes Mal schlagartig verstummen, wenn ich in einem Restaurant jemandem gegenüber diese multiplen Vulven erwähne«, erzählte mir ein Wissenschaftler. »Jeder lauscht und fragt sich, über was zum Kuckuck wir da wohl reden.«
Aus anderen vergleichenden Studien haben sich die Wurmäquivalente des menschlichen Insulin-Gens ergeben sowie die Sequenz eines Gens, das auch beim Menschen für Muskelzellen von Bedeutung ist, und außerdem das Gen für ein Protein, das im
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