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Schön scheußlich

Schön scheußlich

Titel: Schön scheußlich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natalie Angier
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doch wenn sie befruchtet sind, bringt jede von ihnen nur einen oder höchstens eine Handvoll Samen hervor. Bei den Orchideen hingegen pflanzen sich pro Jahr zwar nur einige wenige Exemplare fort, aber wenn ihnen das gelingt, haben sie eine Goldader erwischt. »Sie gehen nach dem Lotteriesystem vor«, meint Dr. Richard B. Primack, Biologieprofessor an der Boston University. »Die Chance, dass eine Pflanze besucht wird, ist sehr gering. Doch wenn sie wirklich befruchtet wird, dann bringt sie Zehntausende, manchmal Hunderttausende von Samen hervor.«
    Eine solche »Alles-auf-eine-Karte«-Strategie scheint für viele Orchideen sehr nützlich zu sein. Die meisten der dreißigtausend Orchideenarten zählen nur wenige Exemplare. Sie sind seltene Pflanzen. Ihr Lebensraum befindet sich hoch oben auf Bäumen oder in weit voneinander entfernten Beständen am Boden. Allgemein gilt die Regel, dass seltene Arten im Lauf der Evolution verrückte, riskante und hoch spezifische Fortpflanzungsstrategien entwickelt haben; sie sind maßgeschneidert, in ihren Nischen zu überleben. Viele Orchideen setzen alle ihre Bestrebungen darein, eine bestimmte Art von bestäubendem Organismus anzuziehen. Aus diesem Grund nimmt eine Orchidee im Lauf ihrer Evolution die Gestalt von Weibchen einer bestimmten Wespenart an oder sondert einen beißenden, für eine bestimmte Fliegenart interessanten Geruch ab. Oder sie verführt eine bestimmte Bienenart und bekommt es manchmal sogar fertig, einen Trottel zweimal zu fangen. Orchideen können es sich leisten, eine Weile auf den perfekten Bestäuber zu warten. Sie gehören zu den langlebigsten unter den Blütenpflanzen und haben nur sehr wenige natürliche Feinde. Die Folge davon ist, dass sehr viel mehr Orchideen von einem Jahr zum nächsten überleben, als dies bei den meisten anderen Pflanzen der Fall ist. Dummköpfe kommen, Dummköpfe gehen, die größten Betrüger der Welt aber bleiben bestehen.

II.
 
 
Tanzen
     

9.
Der Puls der Maschine
     
     
    Unter dem Mikroskop sehen sie wie winzige Kristallschlangen aus, die sich in trunkener Langsamkeit durch ihre Glasschälchen winden, sich hier und da dem eigenen Hinterende zuwenden, als entdeckten sie ihren Schwanz zum ersten Mal, und die auf unbeholfene Zusammenstöße mit dem Nachbarn mit trägem Rückzug reagieren. Unter ihrer durchsichtigen Haut sind Muskelzellen und Nervenfasern deutlich zu erkennen. Das Ganze bietet einen derart delikaten und überirdischen Anblick, dass es kaum glaublich erscheint, dass diese Wesen nichts weiter sind als gewöhnliche Fadenwürmer, wie sie sich in jedem Komposthaufen und in jeder Hand voll Gartenerde zu Tausenden finden. Noch schwerer aber ist zu glauben, dass dieses schlüpfrige Geschlängel von Leben das Antlitz biologischer Grundlagenforschung in einem atemberaubenden Tempo verändert.
    Das Geschöpf, von dem hier die Rede ist, heißt Caenorhabditis elegans, ein Nematode. Der Fadenwurm ist etwa einen Millimeter lang, ernährt sich von Bakterien und reift innerhalb der kurzen Spanne von drei Tagen vom befruchteten Ei zum fruchtbaren Erwachsenen heran. Im selben Tempo wächst das Forschungsgebiet, das sich mit der genauen Untersuchung dieses Organismus befasst, ihn Zelle um Zelle, Molekül um Molekül, Gen um Gen analysiert.
    Heerscharen von Wissenschaftlern auf der ganzen Welt blicken auf diesen Wurm, um der Lösung ihrer Probleme einen Schritt näher zu kommen. Zu diesen Problemen gehören so fundamentale Fragen wie das große Mysterium, was eine einzelne Eizelle dazu bringt, zu einem komplexen Tier heranzuwachsen, und das vielleicht noch größere Rätsel, wer oder was ein~r Zelle signalisiert, dass ihre Zeit vorüber ist und sie zu sterben hat. Das Interesse der Neurobiologen gilt dem relativ primitiven Nervensystem des Nematoden. Sie untersuchen das Netzwerk aus Synapsen, Axonen und Sinnesorganen, über das ein Tier sich mit der Welt auseinander setzt.
    Natürlich sind die Wissenschaftler weniger an Wurmgehirnen und Wurmgeburten als solchen interessiert - wenngleich bei den Nematodenforschern durchaus eine gewisse Zuneigung zu ihrem Versuchstierchen zu konstatieren ist. Sie glauben vielmehr, dass das, was sie aus der Untersuchung jenes Fadenwurms lernen, die ganze evolutionäre Leiter hinauf gültig ist und sich womöglich auch auf das Studium des Menschen anwenden lassen wird. Der Nematode dient als Modellorganismus, als Stellvertreter für uns alle, als ein Musterexemplar, das sich manipulieren, bestrahlen,

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