Schön scheußlich
Kernbeißer erwartet und darauf vertraut, dass seine Wache über seine Artgenossen ihm zum Vorteil gereicht?
Die Neo-Anthropomorphisten erklären, es gebe für die Annahme, dass wir Menschen durch eine unüberbrückbare Kluft vom Rest der natürlichen Welt getrennt sind, keinerlei wissenschaftlich fundierten Grund. Das menschliche Skelett, der menschliche Körper, die molekularen Abläufe im Inneren menschlicher Zellen, das Nervengewebe, aus dem das erhabene menschliche Gehirn besteht - sie alle gleichen in bemerkenswerter Weise denen anderer Arten. Welche Vermessenheit veranlasst uns also zu glauben, dass die menschliche Psychologie und das menschliche Verhalten aus dem Nichts entstanden sind und keinerlei Ähnlichkeiten mit dem Verhalten irgendeines anderen irdischen Wesens haben? Wir sind lebende Organismen, die in einem Kontinuum mit anderen Organismen existieren, so die Vertreter des Anthropomorphisten-Lagers, und es ist wenig sinnvoll, Aspekte unserer Menschlichkeit leugnen zu wollen, wenn wir uns mit dem Verhalten unserer Mitgeschöpfe befassen.
Die neue Garde steht auch auf dem Standpunkt, dass der Anthropomorphismus im Grunde nur ein anderes Wort für Empathie ist, für die Bereitschaft, sich mit dem auseinander zu setzen, das man auch als die »private Erfahrung« eines Tieres bezeichnet: die visuellen Eindrücke, die Gerüche, das Getöse und Gesumme, das seine Welt ausmacht; die Dinge, die es zur Kenntnis nimmt, und die Dinge, die es ignoriert; wie es reagiert, wenn es mit dem Unerwarteten konfrontiert wird. Ein guter Anthropomorphist wird versuchen, in den Schädel eines Lebewesens hineinzuschlüpfen, um die Welt so zu Sehen, wie das Tier es tut - wie eine Waldklapperschlange zu kriechen oder durch die Lüfte zu segeln wie ein Rotschulterbussard - , und dazu ist es unerlässlich, diesen Schädel als würdigen und komplexen Aufenthaltsort zu betrachten.
In einem Experiment mit definitiv anthropomorphem Beigeschmack versuchten die Biologen die Geistesgegenwart einer Hakennatter auf die Probe zu stellen. Diese Schlange verfügt über ein vielfältiges und sehr breites Spektrum an Manövern, um einen Räuber zu täuschen. Bei der ersten Konfrontation pumpt sie sich auf wie eine giftige Kobra (das heißt, sie verbreitert ihre Gestalt, indem sie ihre Rippen nach außen stellt), obwohl sie überhaupt nicht giftig ist. Wenn das den Feind nicht abschreckt, verfällt sie in eine Art Starrkrampf, wälzt und windet sich eine Weile am Boden und kippt dann auf den Rücken, stellt die Atmung ein und lässt die Zunge aus dem Maul hängen, als sei sie tot. Lange galt diese Darbietung lediglich als Ausdruck der Furcht, aber Biologen haben beweisen können, dass es sich in Wirklichkeit um einen Akt der Täuschung handelt: Die Schlange stellt sich tot. Und sie spielt ihre Rolle auf das Raffinierteste. Solange ein Mensch neben der Schlange steht und sie anstarrt, bleibt das Reptil regungslos mit heraushängender Zunge auf dem Rücken liegen. Sobald der Betreffende jedoch seine Augen abwendet, dreht sich die Schlange flink auf den Bauch und gleitet von dannen.
Die aufrührerische Haltung der Anthropomorphisten hat unter den Verhaltensforschern eine lebhafte Debatte und ein wahres Karussell des Für und Wider ausgelöst. John S. Kennedy von der Oxford University warf im Jahr 1992 den Fehdehandschuh in den Ring mit seinem kleinen Bändchen The New Anthropomorphism, in dem er die Praktiken des Anthropomorphismus als eine Art genetisch bedingte »Erkrankung« geißelte, die geheilt werden muss, wenn das Gebiet der Verhaltensforschung überleben soll. Beißende Attacken gegen dieses Buch und seine Gesinnungsgenossen füllen seither die Zeitschriften für Verhaltensforschung, in denen die Vertreter des Anthropomorphismus Kennedy wegen seiner Ignoranz gegenüber ihren Arbeiten über tierische Intelligenz, Sprache und Bewusstheit angreifen.
Die meisten Wissenschaftler liegen irgendwo zwischen den Extremen. Sie gestehen zu, dass Tiere über ein komplexeres Innenleben verfügen, als man es ihnen bislang zugestanden hat. Sie fürchten jedoch auch, dass das Bild, das die Anthropomorphisten von ihrem Anliegen zeichnen, zu grob ist und dass diese zu viele ihrer eigenen Ansichten und Überzeugungen auf ihre Tiere übertragen. Ein besonders lebhaftes Beispiel für die Gefahren, die eine Betrachtung der Natur durch eine allzu vermenschlichte Brille birgt, bietet der Bericht der großen Elefantehforscherin Cynthia Moss über ihre erste
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