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Schön scheußlich

Schön scheußlich

Titel: Schön scheußlich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natalie Angier
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dass wir uns leichter tun als andere Lebewesen, wenn es darum geht, unseren Drang nach Ruhe zu überwinden. Wir können Kaffee trinken, wenn wir eigentlich ein Nickerchen vorzögen, oder die Klimaanlage einschalten, wenn uns die Hitze normalerweise zur Untätigkeit verdammen würde. Viele Menschen treibt einzig und allein der Wunsch zu harter Arbeit, sehr viel mehr zu besitzen als das, was zum bloßen Überleben notwendig ist. Eichhörnchen sammeln, was sie brauchen, um den Winter durchzustehen. Nur Menschen sorgen sich um Schulgeld, Rente oder den Ersatz ihrer alten Schallplatten durch CDs.
    Ein Großteil dieser Raffsucht ist höchstwahrscheinlich Resultat kultureller Zwänge. Die meisten Jäger-und-Sammler-Kulturen, die von einem Tag zum anderen von den Ressourcen leben, die sie töten oder sammeln, und die nur wenig für kommende Zeiten zurücklegen können, arbeiten in der Regel drei bis fünf Stunden. Vielleicht schlummert die angeborene Versuchung, es langsamer angehen zu lassen, ja auch in dem arbeits süchtigsten Menschen. Das würde erklären, warum Faulheit mit Lust und Gefräßigkeit zu den sieben Todsünden gezählt wird.

27.
Alles nur zu menschlich
     
     
    Allem säkularen Gehabe zum Trotz hat Wissenschaft mit vielen Religionen etwas gemein: das eifrige Festhalten am Konzept der Sünde. Es gibt wissenschaftliche Todsünden wie das Fälschen von Ergebnissen oder das Übergehen der Leistungen eines Kollegen. Und es gibt lässliche Sünden wie eine gewisse experimentelle Großzügigkeit oder das etwas zu häufige Erscheinen im Fernsehen. Als eine der größten unter den kleineren Sünden galt den Wissenschaftlern, die sich mit dem Verhalten und der Ökologie von nicht menschlichen Tieren beschäftigen, lange Zeit die gefürchtete Praxis der Vermenschlichung: die Versuchung, der zu untersuchenden Kreatur Emotionen, Absichten, Bewusstsein, Intelligenz, Wünsche oder andere Merkmale zuzuschreiben, die ausschließlich als menschlich gelten.
    Nach herkömmlicher Ansicht sollte ein Wissenschaftler nie davon ausgehen, dass ein Tier bestimmte Absichten verfolgt oder sich dessen bewusst ist, was es tut, ja nicht einmal davon, dass es Schmerz fühlt. Der wahrhaft objektive Biologe wird sich hüten, persönliche Gefühle in ein Tier zu projizieren, und seine Forschung statt dessen auf eine solide Sammlung von Beobachtungen und eine emotionslose statistische Analyse seiner Daten beschränken. In jüngster Zeit hat sich jedoch eine wachsende Zahl von Verhaltensforschern von dieser Ansicht abgewandt und verkündet, dass die Vermenschlichung, wenn sie intelligent und geschickt , erfolgt, unsere Erkenntnisse über Leben und Befindlichkeiten der Geschöpfe um uns herum beträchtlich erweitern kann.
    Niemand will damit sagen, dass Tiere nichts weiter sind als kleine Menschen mit Federn oder Pelz, die dummerweise nicht über einen Internet-Anschluss verfügen. Das Argument der Anthropomorphisten lautet vielmehr, dass viele Arten alle Anzeichen für eine vorhandene Selbst-Bewusstheit aufweisen, für eine Bewusstheit des Daseins anderer und für ein gewisses Maß an Voraus schau und Absicht - alles Merkmale, von denen der orthodoxe Antianthropomorphist behaupten würde, dass sie Tieren grundsätzlich fehlen. Die Anthropomorphisten stehen auf dem Standpunkt, dass sie interessantere Fragen stellen und aussagekräftigere Experimente entwerfen können, wenn sie nicht menschlichen Wesen ein gewisses Maß an Motivationen und Wünschen zugestehen. »Ich habe nicht vor, waghalsige Behauptungen aufzustellen, etwa dass Tiere eine Menge bewusster Manipulationen an ihrer Umwelt vornehmen«, so ein eingefleischter Anthropomorphist, »aber ich würde ohne Zögern behaupten, dass Tiere gewisse Erwartungen bezüglich ihrer Zukunft hegen.«
    Der Abendkernbeißer beispielsweise versammelt sich mit seinen Artgenossen im Kreis statt in einer Reihe oder in einem fröhlichen Durcheinander. Aus dem vermenschlichenden Blickwinkel des Anthropomorphisten gelangten Biologen zu der Überzeugung, dass sich dieses rätselhafte Gruppenverhalten womöglich daraus erklären lässt, dass die Vögel sich so leichter der Aktivitäten anderer im Schwarm versichern können: Wenn ein Vogel sieht, dass ein anderer nach Räubern Ausschau hält, beginnt er in Ruhe zu fressen, ist er doch für den Moment der Pflicht entbunden, darauf achten zu müssen, was hinter ihm passiert. Wie sonst sollte sich das Verhalten erklären lassen, wenn nicht durch die Annahme, dass der

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