Schön tot: Ein Wien-Krimi (German Edition)
sein.
Das skurrile Stiegenhaus mit der Bassena und dem vergitterten Fenster weckte Erinnerungen an meine Kindheit. In dem Haus in der Arbeitergasse, in dem ich aufgewachsen war, hatte es ähnlich ausgesehen.
Da ich zu früh dran war, ging ich auf die Pawlatschen. Schaute hinunter in die Gastgärten. Die Kolkraben schliefen in den Ästen des Kastanienbaums. Plötzlich tauchte hinter den rotbraunen Dächern eine Schar kreischender Dohlen auf. Sie drehten sich am hellblauen Himmel, hielten einen Moment lang inne, stießen auf den Boden herab und versetzten die warme Frühlingsluft mit ihrem Flügelschlag in sanfte Schwingungen. Dann starteten sie wieder in Richtung Himmel und waren so schnell verschwunden, wie sie aufgetaucht waren.
Auf einmal stand Dr. Mader neben mir. Ich hatte die Tür zur Pawlatschen offen gelassen, ihn aber nicht kommen gehört.
„Es wird endlich Frühling“, sagte er und bat mich in seine Ordination.
Ich bewunderte die Bilder an den Wänden. Es waren auch zwei Stadtansichten von New York darunter.
„Sind diese Bilder von Ihnen?“, fragte ich.
„Nein, von meinem Vater“, antwortete er.
Ich setzte mich auf ein Zweiersofa. Er nahm mir gegenüber in einem Ledersessel Platz. Ich wusste nicht, wie ich beginnen sollte. Schwieg verlegen. Er forderte mich auf, ihm zuerst einmal meine Familiengeschichte zu skizzieren.
„Meine Kindheit war nicht weiter bemerkenswert. Außer, dass ich meine Mutter für noch verrückter hielt als die Mütter meiner Freundinnen. Das Gymnasium in der Rainergasse habe ich so recht und schlecht hinter mich gebracht. Nach der Matura begann ich meinem Vater zuliebe, Geschichte zu studieren. Mein Vater war ein sehr belesener Mann. Er hatte beim Vorwärts-Verlag als Setzer gearbeitet. Kannte die Geschichte der österreichischen Sozialdemokratie von vorn bis hinten. Und er war bis zum bitteren Ende dabei. Hat auch die Übersiedelung vom Vorwärts-Gebäude in der Rechten Wienzeile in die Viehmarktgasse im dritten Bezirk mitgemacht.“
„Wann wurde die Zeitung endgültig eingestellt?“
„Die letzte Ausgabe erschien 1991. Nachdem die Partei den eigenen Verlag und die Parteizeitung aufgegeben hatte, packten meine Alten zusammen und erfüllten sich einen gemeinsamen Traum. Von seiner Abfertigung kauften sie sich ein Wohnmobil und fuhren damit kreuz und quer durch die Vereinigten Staaten. Auf einem Campingplatz außerhalb von Houston wurden sie überfallen und niedergeschossen. Mein Vater war sofort tot. Meine Mutter lebte noch ein paar Tage. Als ich im Memorial Hermann, dem größten Krankenhaus von ganz Texas, eintraf, war auch sie tot.“
„Wann war das?“
„Im September 1993. Ich war damals dreiundzwanzig.“ Ich stockte. Dann fuhr ich fort: „Meine Eltern hinterließen mir das blöde Wohnmobil. Ich verkaufte es und blieb in den Staaten. Übrigens erzielte ich einen irrsinnig guten Preis für das Ding. Diese perversen Amis waren total geil drauf, den Schauplatz eines Doppelmordes ihr Eigen zu nennen. Ein Jahr lang lebte ich bei Verwandten meiner Mutter in einem Kaff in Texas. Meine Mutter hatte fast überall auf der Welt Verwandte. Die Roma sind eine einzige große Familie. Ich hielt es so lange bei meiner Sippe aus, weil ich hoffte, die texanische Polizei würde diese verdammten Killer doch noch kriegen. Ich hoffte vergeblich. Irgendwann wurde mir das Zusammenleben mit meinen Verwandten zu eng. In den Familienverbänden der Roma gibt es für den Einzelnen fast keine Intimsphäre. Nur die Gruppe zählt. 1995 ging ich nach New York. Der Bruder meiner Mutter lebte dort. Sándor Bakos, vielleicht kennen Sie ihn sogar?“
Dr. Mader schüttelte den Kopf.
„Sándor war ein berühmter Geiger. Er lebte in den 60er- und 70er-Jahren in Margareten. Trat oft in einem ungarischen Lokal am Margaretenplatz auf. Man nannte ihn den ‚Teufelsgeiger‘, in Anlehnung an Paganini. Wenn er spielte, lag ihm sein Publikum zu Füßen. Sonst wurde er aber eher wie ein Aussätziger behandelt. Deshalb emigrierte er auch Anfang der 80er-Jahre in die USA. Ich muss vielleicht noch kurz erklären, dass meine Großeltern eigentlich Lowara waren, ein eigener Stammesverband der Roma. Meine Vorfahren sind erst Ende des 19. Jahrhunderts in den Seewinkel eingewandert. Die meisten meiner männlichen Verwandten waren Pferdehändler oder eben Musiker. Mein Onkel Sándor lebte nur für seine Musik, konnte seine Gedanken und Gefühle nur über Musik ausdrücken. Das Zusammenleben mit ihm in einer
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