Schön und ungezähmt
Colton nahm das Stück Quarz, steckte es in seine Jackentasche und folgte ihr über den Rasen. Sie schafften es, alle Gegenstände auf der Liste zu sammeln. Auch eine glücklose, grellgrüne Raupe fanden sie, die er in der Hand barg und so daran hindern musste, über ihn hinwegzukriechen. Als sie schließlich zur Terrasse zurückkehrten, saß seine Großmutter mit all ihrer Würde dort und führte den Vorsitz bei der Schnitzeljagd. Sie zeigte mehr Begeisterung, als Colton bei ihr seit Jahren erlebt hatte, und sie hatte sogar ihren Gehstock beiseitegelegt.
Robert, der mit einer der Campbell-Schwestern auf die Jagd gegangen war – Colton konnte die beiden nicht auseinanderhalten -, hielt auch einen flauschigen Wurm. Der resignierte Ausdruck auf seinem Gesicht ließ vermuten, dass auch er das Spiel lächerlich fand.
Für seine Großmutter aber, und für ihre begeisterte Miene, hätte Colton ein Dutzend solcher Kreaturen gesammelt und sie herumgetragen.
Damien gesellte sich zu ihnen. Kaum hörbar murmelte er: »Wie unhöflich wäre es wohl, wenn wir uns auf einen Brandy in dein Arbeitszimmer zurückziehen würden, Colt?«
»Es ist noch nicht einmal Mittag.«
»Ach ja? Hältst du nicht ein Insekt in deinen Händen? Wie oft passiert so etwas vor der Mittagsstunde – oder anders gefragt:
Wann passiert das je? Ich für meinen Teil brauche einen Drink.«
Sein Bruder hatte nicht ganz unrecht. Colton bemerkte streng: »Ich glaube nicht, dass man es tatsächlich als Insekt klassifizieren kann. Müssen Insekten nicht sechs Beine haben? Das hier hat auf jeden Fall einige mehr.«
»Das ist wohl kaum der richtige Zeitpunkt, um über Bagatellen zu debattieren.« Damiens Raupe war jedenfalls die kleinste und unansehnlichste, denn sie war fleckig und hatte Borsten.
Schließlich kamen sie doch noch zu ihrem Brandy, indem sie Zuflucht in seinem Arbeitszimmer suchten. Colton entließ Mills mit einem diskreten Winken und der Bitte, das zu beenden, was sie bereits besprochen hatten, und am nächsten Morgen Bericht zu erstatten. Sein Sekretär schien erstaunt, dass Colton sich den Rest des Nachmittags von der Arbeit freinehmen wollte.
Vielleicht unterwarf er sich ein bisschen zu sehr den Anforderungen seiner Arbeit. Nicht alles bedurfte seiner persönlichen Überwachung. In ihm schlummerte noch immer der verunsicherte, junge Mann, dem die Verantwortung über ein Herzogtum und die Familie aufgeladen worden war. Und er war nicht sicher, wie er den Impuls unterdrücken sollte, dass er alles und jeden überprüfen musste. Vielleicht wäre es anders gekommen, wenn sein Vater erkrankt und langsam dahingesiecht wäre. Er wäre besser darauf vorbereitet gewesen. Den einen Tag war sein Vater noch da gewesen, rüstig und herzlich wie immer. Und dann war er plötzlich fort.
Sein Tod hatte Coltons Welt in den Grundfesten erschüttert.
Er nahm einen kräftigen Schluck Brandy und konzentrierte sich wieder auf die laufende Unterhaltung. So eine Innenschau beunruhigte ihn eher.
»… musste aber auch verflucht noch eins die beste rote Blume sein.« Robert grollte noch immer seiner Partnerin bei der Schnitzeljagd. »Ich schwöre euch, sie hat jede einzelne Rose auf dem Anwesen in Augenschein genommen. Dann haben wir trotzdem gegen Lord Emerson und seine Partnerin verloren.«
»Großmutter hatte einen Heidenspaß daran, die Gewinner auszuwählen«, merkte Damien an. »Obwohl ich glaube, ihre Wahl hat mehr mit Kuppelei zu tun denn mit Farben oder Duft, wie sie behauptet hat. Emerson und das ältere Campbell-Mädchen schienen diesen besonderen, starren Blick zu haben, der mich ja schnurstracks zurück nach Spanien treiben würde, wenn er mich träfe.«
»Ziemlich schwierige Sache«, gab der Earl of Bonham zu, der sich zu ihnen gesellt hatte. Ein leichtes Lächeln erhellte seine Miene. »Immerhin befindet sich ja ein ganzer Ozean zwischen dort und hier.«
»Dann werde ich eben beim Versuch, dorthin zu gelangen, ertrinken«, konterte Damien grinsend. Er lehnte sich entspannt in seinem Sessel zurück und hob die Hand. »Und nein, ich brauche keine Vorträge über die Wirkung einer lebenslangen Bindung an eine Frau. Oder darüber, wie schön die Ehefreuden sind. Die Franzosen sind für mich Herausforderung genug.«
»Freuden?« Bonham grinste. »Nun, von Zeit zu Zeit passt dieser Begriff. Das Schlafzimmer käme mir da als Ort der Wonnen in den Sinn.«
»Ein Mann kann dieselbe Wonne genießen, ohne sich ein Leben lang an eine Frau zu binden«,
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