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SCHÖN!

SCHÖN!

Titel: SCHÖN! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebekka Reinhard
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unvernünftige Teil zieht es vor, diese Information zu ignorieren. Er ist es, der uns in Modeboutiquen treibt, zu sündteuren Kosmetikprodukten greifen lässt und uns dazu verführt, an die Wirkkraft des Geldes zu glauben. So erliegen wir der wahnhaften Vorstellung, dass es nichts an uns gibt, das nicht verändert, verbessert, verschönert werden müsste. Wir doktern an unserem Äußeren herum – und übersehen dabei das eigentliche Motiv unseres Strebens: den Wunsch nach Erlösung . Die Sehnsucht, durch gutes Aussehen von Angst, Einsamkeit, mangelnder Anerkennung, einer schlechten Ehe, einem miesen Job, dem Tod und vielen anderen Problemen befreit zu werden. Diese Sehnsucht ist der Grund, warum wir jede Diät, jeden Schuhkauf, jeden Besuch im Fitnessstudio mit einem Heilsversprechen verbinden, warum wir uns bereitwillig von hohen Absätzen und Crosstrainern foltern lassen, bis wir kaum noch stehen können. Wir schreiben dieser Quälerei einen höheren Sinn zu, weil wir insgeheim glauben, ein schöner Trizeps könne unserem Dasein eine ganz neue Wendung geben. Für Verblendungen dieser Art gibt es eine ganz einfache Erklärung: Wir betrachten unseren Körper als etwas, das wir haben – nicht als etwas, das wir sind . Wir denken: Wenn es uns gelingt, das, was wir haben, in die richtige Form zu bringen, werden wir endlich das sein, was wir sein wollen.
    Deshalb lässt der moderne Mann beim Sport literweise Schweiß. Deshalb tut die moderne Frau beim Anblick ihrer Orangenhaut, als hätte sie Lepra, deshalb verzweifelt sie an ihrem Unterbauch, als sei dieser gleichbedeutend mit ihrer Gesamterscheinung. Anstatt – wie in allen anderen Fällen – ihren Kopf einzusetzen, vergleicht sie die Körperteile, die ihr am meisten missfallen, mit denen minderjähriger Models. Sie sehnt sich nach wissenschaftlich belegten Idealmaßen und lässt dabei ganz außer Acht, dass die neuesten Studien von Attraktivitätsforschern und Anthropologen keine absolut unantastbare endgültige Wahrheit darstellen (und in der Mehrzahl der Fälle von Männern verfasst wurden).
    Ein Körper ist mehr als nur Besitz. Er ist die äußere Gestalt einer geistig-seelischen Verfassung. Äußeres und Inneres gehören zusammen – wie Form und Inhalt. Wenn wir bei der Lektüre eines Wintergedichts von Rainer Maria Rilke »schön!« denken, meinen wir nicht den Inhalt (zugefrorene Gewässer, frostbeschlagene Scheiben, verfrorene Finger und rote Ohren). Wir meinen auch nicht die Form (die kunstvolle Aneinanderreihung von Worten). Wir wissen intuitiv: Die Schönheit des Gedichts ist weder im »Was« noch im »Wie« zu finden, weder in der Wortwahl noch im Satzbau, weder in der Länge des Texts noch in der Zeichensetzung – sondern in einem Ganzen, das mehr als die Summe seiner Teile ist.
    Auch unser Körper ist mehr als die Summe aus Haut, Knochen, Fleisch und Haar. Ob er von anderen als attraktiv wahrgenommen wird, hängt auch wesentlich von seinen Bewegungen ab. Davon, wie sich seine Lebendigkeit in Gesten und Blicken ausdrückt. Die Hochglanzfotografie eines Models oder Schauspielers kann entzücken – ob der abgebildete Mensch aber so attraktiv ist, wie er zu sein scheint, lässt sich nur feststellen, wenn er vor uns steht. Die Art und Weise, wie er Hände, Füße, Arme, Beine, Kopf und Augen bewegt, ist entscheidend. Niemand hat dieses Phänomen besser beschrieben als der Schriftsteller Heinrich von Kleist ( 1777 – 1811 ). In seinem Aufsatz Über das Marionettentheater erzählt Kleist von einem Tänzer, der von der geradezu vorbildlichen Unaffektiertheit der Marionetten schwärmt: »Denn Ziererei erscheint …, wenn sich die Seele … in irgendeinem anderen Punkte befindet als in der Bewegung.«
    Mit anderen Worten: Sobald einem Tänzer bewusst wird, wie großartig seine Körperbeherrschung ist, fallen seine Drehungen gekünstelt aus. Jeder noch so geübte Tänzer ist ständig in Gefahr, seine Leichtigkeit und Anmut zu verlieren – einfach dadurch, dass er zu sehr weiß, was er tut. Dieses Phänomen beschreibt Kleist auch am Beispiel eines Jünglings, der nach dem Baden seinen Fuß zum Abtrocknen auf einen Schemel setzt. Als er sich dabei im Spiegel betrachtet, fühlt er sich an eine griechische Statue erinnert, die er kurz zuvor im Museum sah:
    »(E)r lächelte und sagte mir, welch eine Entdeckung er gemacht habe. In der Tat hatte ich, in eben diesem Augenblick, dieselbe gemacht; doch sei es, um die Sicherheit der Grazie, die ihm beiwohnte, zu

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