SCHÖN!
Bedarf können wir auf eine ganze Armada von Coaches zugreifen, die uns lehren, wie man mittels Gestik, Körperhaltungen und Tonlagen eine vorbildliche innere Verfassung simuliert.
Ob Sein oder Schein: Wir sehen nur das, was wir sehen wollen. Was wir mit am liebsten sehen, sind Leute, zu denen wir aufschauen, an die wir glauben können. Autoritäten aus Politik und Wirtschaft, die uns Ordnung, eine gesicherte Existenz, ein weitgehend sorgloses Leben versprechen. Es ist nicht schwer zu glauben. Aber der Glaube kann unser Urteilsvermögen schwächen – und damit unsere Fähigkeit, die schönen Seelen von den schönen Lügnern (s. Kap. 6 ) zu unterscheiden. Was die kritische Betrachtung Letzterer betrifft, sind uns Menschen, die an einer Aphasie (vom griechischen Wort »aphasia« für »Sprachlosigkeit«) erkrankt sind, um Einiges überlegen. Die Aphasie, eine durch Hirnschädigung bedingte Erkrankung, die mit dem Verlust des Sprechvermögens bzw. des Sprachverständnisses einhergeht, kann, wie der Neurologe Oliver Sacks gezeigt hat, als eine Art Lügendetektor fungieren. So zum Beispiel Anfang der 1980 er-Jahre, als in Sacks’ Klinik eine Ansprache des damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan übertragen wurde. Die anwesenden Aphasiepatienten waren von seinem Auftritt alles andere als ergriffen. Die Rede des Präsidenten machte sie auch weder nachdenklich noch zornig, sondern veranlasste sie zu heftigen Lachkrämpfen. Zwar konnten sie die Bedeutung von Reagans Worten nicht verstehen – sehr wohl aber die Bedeutung seiner nonverbalen Botschaften, seines Tonfalls, seiner Gestik, Mimik und Haltung. Laut Sacks sind Aphasiepatienten Meister darin, emotional unterlegte Aussagen zu interpretieren und somit Friedrich Nietzsches Einsicht zu bestätigen: »Man lügt wohl mit dem Mund, aber mit dem Maul, das man dabei macht, sagt man doch die Wahrheit.«
Da Aphasiker mit untrüglichem Instinkt die spontane, un willkürliche Ausstrahlung eines Menschen erfassen, ist es schier unmöglich, ihnen etwas vorzugaukeln. So waren Sacks’ Patien ten dank ihrer Krankheit imstande, Präsident Reagan als den zu sehen, der er war: ein Mann, der in über fünfzig Hollywoodfilmen mitgewirkt hatte, bevor er die politische Laufbahn einschlug. Ein Mann, dessen effekthascherische, hochemotionale, unglaubwürdige Darbietung darauf schließen ließ, dass er noch immer ein leidenschaftlicher (wenn auch nicht besonders guter) Schauspieler war.
Nur ein relativ geringer Teil der Bevölkerung ist von einer Aphasie betroffen. Die Anfälligkeit für schöne Lügen ist weithin verbreitet – für die Lügen, die andere erzählen, genauso wie für die, die man sich selbst erzählt. Sich selbst etwas vorzumachen, ist bequem. Man muss sich nicht mit der eigenen Unvollkommenheit befassen. Man braucht sich nicht zu bilden und weiterzuentwickeln. Man kann sein, was immer man will: schön, »groß«, willensstark, perfekt. Eine Patientin des Psychologen Arno Gruen formulierte es drastisch so:
»Wenn man sich in selbst gebastelten Posen sieht, braucht man sich nicht um Gefühle zu kümmern. Wenn man sich in Erscheinungsbilder projiziert, ist alles abrufbar. Man kann die Bilder in Schubladen stecken und versorgen, je nachdem, was gefordert ist. Es ist alles visuell, wodurch man ›scheinbar‹ auch alles und sich selber bestimmen kann. (…) Ich stellte mir dann zum Beispiel vor, wie ich als Ärztin cool und alles im Griff habend posierte. Einfach perfekt und bewunderungswert.«
»Selbst gebastelte Posen« sind Schutzschilde gegen das authentische Ich. Dessen Gedanken und Gefühle sind natürlich nie so kontrolliert wie das nach außen verkaufte Image. Oder doch? Wenn wir uns das Posieren zur zweiten Natur machen, verlieren wir irgendwann den Bezug zu unseren echten Emotionen – und damit auch die Fähigkeit, authentische, gelingende Beziehungen zu unseren Mitmenschen zu pflegen. Wir stumpfen ab. Wir konzentrieren uns nicht mehr auf andere, sondern nur noch auf unsere Wirkung auf andere. Nur noch der makellose, effektvolle Auftritt zählt. So gesehen haben Posen eine ähnlich fatale Wirkung wie regelmäßige Botox-Injektionen.
In ihrer Studie »Embodied Emotion Perception« (»Körperlich verankerte Emotionswahrnehmung«) von 2011 untersuchten die beiden Psychologen und Neurowissenschaftler David T. Neal und Tanya L. Chartrand, inwiefern das Nervengift und Schönheitsmittel Botox die Deutung von Gefühlen beeinträchtigt. Mit dieser Arbeit bestätigten sie
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