Schönbuchrauschen
großer Karton diente als Abfallkorb und war zur Hälfte mit Zeitungen, Broschüren, abgegriffenen Taschenbüchern, Rechnungen und Kassenzetteln angefüllt. Auf einem abgewetzten Sessel stapelten sich zwei Blechkisten, und daneben waren zugeklebte Umzugskartons aufeinandergetürmt. Ein Lattenrost mit Matratze war an die Wand gerückt, lose Bettwäsche und ein Schlafanzug lagen darauf. Ein kleiner Schemel sollte als Nachttisch dienen.
Der Farbgeruch kam aus dem Nebenzimmer. Es war leer. Die Decke und eine Wand strahlten schon in frischem Weiß, der Fenster- und der Türrahmen waren bereits abgeklebt.
Neben dem halbvollen Farbeimer lagen die Walzen auf der dünnen Abdeckfolie.
»Du kannst gleich weiterstreichen, wenn du Lust hast«, frotzelte Feinäugle.
»Das sieht nach Umzug aus«, konstatierte Kupfer. Er schaute in die Küche. »So ein Saustall«, brummte er und wandte sich angewidert ab.
Gebrauchtes Geschirr, halbvolle Flaschen und Biergläser, eine offene Raviolidose und auf dem verschmutzten Herd eine Pfanne, in der offensichtlich etwas angebrannt war.
»Sollen wir …?«
»Nein, wir sollen nicht. Wir überlassen das ganze Gerümpel der Spusi. Mich interessieren nur die beiden Blechkisten.«
Trotzdem beugte sich Feinäugle über den Abfallkarton in der Mitte des Zimmers und griff hinein, ohne etwas Besonderes zu suchen.
»Wichtige Sachen wird er da kaum hineingeschmissen haben«, meinte Kupfer abfällig.
»Kommt drauf an, was man für wichtig erklärt.«
Feinäugle kippte den Inhalt einfach aus: aufgerissene Briefumschläge, Werbebroschüren, Knüllpapier und ein paar Bogen Schreibpapier.
»Oho! Schau mal. Da hat einer geübt!«
Mit triumphierendem Lächeln reichte er Kupfer einen Briefbogen, der mit einer Unzahl von gleichen Namenszügen übersät war, alle mit Tinte geschrieben. »F. Lipp«, »Ferdinand Lipp« stand da gute fünfzig Mal. Er betrachtete die Unterschriften genauer.
»Oder er hat sich warmgeschrieben. Die Unterschriften sind alle gleich, wie mir scheint. Lass mal herausfinden, wer dieser Ferdinand Lipp ist.«
Kupfer rief Paula Kussmaul an und beauftragte sie, nach einem Ferdinand Lipp zu forschen. Dann griff er nach einer der beiden Blechkisten.
»Ziemlich leicht.«
Er schüttelte sie spielerisch. Ein lockeres Klappern ließ auf ein paar leichte Gegenstände schließen. Er hob den Deckel ab.
»Da schau her, jetzt wird’s Tag.«
In der Schachtel lagen ein paar Kreditkarten auf den Namen Ferdinand Lipp sowie drei TAN-Generatoren von verschiedenen Banken, außerdem ein Füllfederhalter Marke Montblanc.
»Kreditkarten von Ferdinand Lipp! Damit ist der Sinn dieser Schreibübung klar. Und hier ist auch das Schreibgerät. Wenn er mit Lipps EC-Karte bezahlen will, dann muss er in vielen Geschäften unterschreiben. Den Namenszug musste er schon ins Handgelenk bekommen.«
»Aber fürs Einkaufen übers Internet brauchte er die Unterschrift nicht einmal«, sagte Feinäugle und schnalzte leise mit der Zunge. »Unser Toter aus dem Schönbuch war also doch kein Unschuldslamm. Irgendwie hat er sich die Kreditkarten von diesem Lipp verschafft. Vielleicht ist er sogar an die Passwörter herangekommen. Dann brauchte er sich bei den Versandhäusern nur noch einzuloggen. Jedenfalls musste er sich nirgends zeigen, er musste nichts unterschreiben. Wenn dann noch das monatliche Umsatzlimit hoch angesetzt war, hatte er besonderes Glück gehabt. Er musste nur noch seine Adresse als Lieferadresse in das Bestellformular eintragen. Und schon flogen die Neuanschaffungen ihm wie gebratene Tauben ins Haus. Leichter geht es doch gar nicht! Er muss sich wie im Schlaraffenland vorgekommen sein!«
Kupfer nickte nachdenklich.
»Ja, das kann zum Teil so gelaufen sein, aber der Autokauf sicher nicht. Und da sind ja auch noch diese TAN-Generatoren. Aber mit denen beschäftigen wir uns später«, sagte er und öffnete die zweite Kiste. Sie enthielt ein iPad und eine neue digitale Spiegelreflexkamera.
Er nahm das iPad in die Hand und schaute es prüfend an.
»So eines hast du nicht daheim. Weißt du, was das kostet?«
»Nicht genau. Aber unter vierhundert kriegst du’s kaum.«
»Das denk ich auch. Hightech vom Feinsten. Der Knabe wusste, was er wollte.«
Kupfers Handy klingelte. Es war Paula Kussmaul.
»Nach dem Ferdinand Lipp brauchen Sie nicht zu suchen. Der ist tot. Er ist an den Folgen eines Verkehrsunfalls gestorben.«
»Wann ist er verunglückt? Wo?«
»Beim Stuttgarter Westbahnhof, vor ungefähr
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