Schöne Lügen: Roman (German Edition)
Lances Hand umklammert hielt, als sei dies eine Frage von Leben und Tod.
Sie mußte eingeschlafen sein, denn das nächste, was sie bemerkte, war eine Hand, die ihre Schulter schüttelte und eine fremde Stimme vom Ende eines Tunnels. »Miss O’Shea. Miss O’Shea. Wenn Sie schon einen Mann um zwei Uhr in der Nacht aus dem Bett holen lassen, dann könnten Sie ihn zumindest begrüßen.«
Das Gesicht, das sich über sie beugte, war so liebenswürdig wie die dazugehörige Stimme. Der Arzt hatte graues Haar, seine Augen waren von einem verwaschenen Blau. »Wie geht es Ihnen? Ist alles herausgekommen?«
»Ich glaube schon.« Sie nickte.
»Nach dem, was ich gehört habe, muß Ihr Magen ganz schön weh tun. Haben Sie noch Schmerzen?« Er hatte die Decke zurückgeschoben und untersuchte jetzt mit erfahrenen Händen ihren Bauch.
Einen Augenblick lang dachte sie über seine Frage nach, dann antwortete sie: »Es fühlt sich alles ganz leer an, aber ab und zu habe ich noch einen Krampf. Doch es ist nicht mehr so schlimm wie vorhin.«
»Nun, in dem Magen ist ja auch nichts mehr, was sich verkrampfen könnte.« Er lächelte. Jetzt maß er ihren Blutdruck und schob ihr ein Fieberthermometer unter die Zunge. »Ich
werde Ihnen einige Fragen stellen, Sie brauchen nur zu nicken oder den Kopf zu schütteln. Haben Sie schon öfter so etwas gehabt?«
Nein.
»Hat ein Arzt bei Ihnen ein Magengeschwür festgestellt?«
Nein.
»Haben Sie Anzeichen von Blut gesehen, als Sie sich übergeben mußten?«
Nein.
»Sind Sie schwanger?«
Aus einem unerklärlichen Grund flogen ihre Blicke zu Lance, der am Fuß des Bettes stand. Er hatte sich mittlerweile ein Hemd angezogen, doch es nicht zugeknöpft.
»Nun?« fragte der Arzt nach.
Nein.
»Nehmen Sie irgendwelche Medikamente, einschließlich Tabletten zur Geburtenkontrolle?«
Sie wollte gerade den Kopf schütteln, als sie sich an das Penicillin erinnerte. Ja.
»Ich werde die Tabletten holen«, sagte Lance und ging ins Bad.
Der Arzt nahm das Thermometer aus ihrem Mund: »Nun, Fieber haben Sie jedenfalls nicht. Ihre Temperatur liegt sogar unter der Norm.« Er lachte leise.
»Das ist bei mir normal«, erklärte Erin und hoffte, die Grimasse in ihrem Gesicht würde als Lächeln durchgehen. »Wie ist Ihr Name?« fragte sie.
»Andrew Joshua.«
»Danke.« Sie fand wenigstens die Kraft zu nicken, und er tätschelte ihr die Hand.
»Zuerst einmal müssen Sie gesund werden, dann können Sie mir danken.«
Er nahm die Tabletten aus Lances Hand und zog eine silbergerahmte Brille aus der Brusttasche seines Anzuges, dann las er die Rezeptur auf der Rückseite des Döschens.
Erin blickte zu Lance. Er hatte beide Hände in den Taschen seiner Jeans vergraben und starrte sie von seinem Platz am Fußende aus an. Es kam ihr gar nicht in den Sinn, seine Anwesenheit hier in Frage zu stellen, während der Arzt sie untersuchte. Sie war einfach froh, daß er da war. Verwundert stellte sie fest, daß die steile Falte zwischen seinen Augenbrauen genau auf der gleichen Linie lag wie das Grübchen in seinem Kinn. Er bedachte sie mit einem kurzen, aufmunternden Lächeln, und die Wärme in seinem Blick schien sie anzurühren. Wie gern hätte sie jetzt weniger jammervoll ausgesehen.
Melanie war noch immer verschwunden.
»Aha, Penicillin«, meinte Dr. Joshua. »Wogegen nehmen Sie das?«
»Gegen eine Halsentzündung.«
»Wann hatten Sie Angina?«
»In der letzten Woche. Am Dienstag fing es an.«
»Und Sie haben die Anweisungen genau eingehalten und jeden Tag drei Tabletten genommen?«
»Vorgestern habe ich um die Mittagszeit eine ausgelassen.« Sie warf Lance einen schnellen Blick zu.
»Haben Sie die Einnahme hinterher nachgeholt, oder haben Sie sie überschlagen?«
»Ich habe sie überschlagen.«
»Nun, dann tun Sie uns allen einen Gefallen und überschlagen
auch noch den Rest. Ich denke, daß Sie allergisch darauf reagiert haben. Es ist ein sehr gutes Mittel, aber Sie wissen ja selbst, wenn jemand allergisch auf etwas reagiert, kann selbst eine gute Sache gefährlich werden.«
»Aber ich habe mein ganzes Leben lang Penicillin genommen«, protestierte Erin.
»Dies hier ist eine neue, synthetische Version. Etwas in der Zusammenstellung macht diese Tablette für Sie unverträglich.«
»Davon hatte ich keine Ahnung«, murmelte Erin.
»Nun, jetzt wissen Sie Bescheid. Vergessen Sie nicht, Ihren Arzt davon zu unterrichten, wenn Sie wieder nach Hause kommen. Ich werde einen Bericht schreiben, den können Sie
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