Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)
und das Ganze wurde dann mehrmals wiederholt. Gerüchten zufolge gründeten Drucker, denen seine Aufträge zugeteilt wurden, eine frühe Gewerkschaft, um nicht mehr als eine bestimmte Stundenzahl mit seinen anspruchsvollen Werken verbringen zu müssen.
© Benoît B. Mandelbrot Archives
Dem großen Physiker Niels Bohr sagt man nach, er sei fast so schlimm gewesen – mit dem zusätzlichen Problem, dass er sowohl wohlhabend als auch mächtig war und es deswegen nicht besonders nötig hatte, aus Karrieregründen schnell zu veröffentlichen. Er musste von Kollegen dazu gedrängt werden, mit dem ewigen Überarbeiten aufzuhören und endlich zu veröffentlichen, wobei seine jeweils früheren Entwürfe im Allgemeinen als besser gelten denn die letzten; sie zirkulieren in einer Art von Untergrundversionen. Auch der russische Dichter Bialik litt darunter, weshalb man diesen extremen Schreibstil vielleicht als Balzac-Bohr-Bialik-Syndrom bezeichnen könnte.
Ich leide an einer akuten Form dieses Syndroms. Ich beginne nie mit einem Inhaltsverzeichnis und schreibe dann die Kapitel, Abschnitte und Sätze in der aufgeführten Reihenfolge. Vielmehr beginne ich mit mehreren schon vorhandenen Teilen, bei denen man damit rechnen kann, dass sie die Struktur des Ganzen liefern werden, und füge dann an verschiedenen Stellen etwas hinzu. Immer wieder wache ich morgens mit dem überwältigenden Gefühl auf, dass ein Abschnitt des Buchs an der falschen Stelle steht und besser nach vorn oder hinten verschoben werden sollte. Es ist buchstäblich so, dass ein Buch nicht fertig ist, solange ich es nicht auswendig kenne. Als junger Mann hatte ich keine Sekretärin zur Verfügung oder keine Zeit, Texte sorgfältig von Hand niederzuschreiben. Also schickte ich dem Drucker oft etwas, was in Wahrheit ein unausgereifter früher Entwurf war. Fahnenabzüge erforderten ausführliche Änderungen nach Art Balzacs und ließen es manchmal als besser erscheinen, meinen Text ganz neu zu schreiben – was saftige Rechnungen nach sich zog. Die Textverarbeitung mit dem PC hat dazu geführt, dass man mit diesem Syndrom sehr viel besser leben kann, ohne dass es deswegen überwunden wäre.
Lassen Sie mich das genauer ausführen – dazu möchte ich die Unterscheidung heranziehen, die ich zwischen »Sehern« (wie ich bevorzugen sie Bilder) und »Hörern« (sie bevorzugen gesprochene Sprache) mache. Geschriebener oder gedruckter Text ist ein Zwitter, der erst spät in der menschlichen Entwicklung aufgetreten ist; manche ansonsten fortgeschrittene Kulturen haben überhaupt keine Schrift hervorgebracht. Hörer wie Mozart und Homer brachten einen oder mehrere lineare Töne zu Papier, die sie mit ihrem »inneren Ohr« hörten – dazu waren nicht unbedingt viele Schritte nötig. Ich meine, Balzac muss ein Seher gewesen sein – er hatte gleichzeitige mehrdimensionale Gedanken, die im Prozess des Schreibens in ein lineares System gezwungen werden mussten. Von Hand schreibe ich schlecht, und ich frage mich, ob es mit dem Diktieren besser gewesen wäre. Das Ergebnis ist am besten in Maschinenschrift zu erkennen. Erst dann wird es einem mentalen Prozess unterzogen, der dem Glühen in der Metallurgie ähnelt, wo die Eigenschaften von Metallen unter festgelegten Bedingungen geändert werden. Beim metaphorischen Glühen habe ich den Eindruck, dass ein getippter Text unerwartete Beziehungen zwischen Wörtern, Sätzen, Absätzen oder Kapiteln enthüllt. Sobald ich diese Beziehungen erkennen kann, bin ich imstande, sie nach Bedarf anzupassen. Das Papier wird zu einem neuen Schmelztiegel für Kreativität, zu einer Krücke für alle minderen Mozarts.
Viele wissenschaftliche Artikel sind absolut glanzlos, weil sie für Leute geschrieben werden, die nicht überzeugt werden müssen. Ihre Autoren gehören einem kleinen Kreis innerhalb eines gut eingeführten Gebiets an; sie kennen mehr oder weniger jeden Einzelnen oder werden von den Betreuern ihrer Dissertation oder ihren Mentoren eingeführt – sie schreiben füreinander. Folglich ist der Stil für sie zweitrangig und unwichtig. Bei mir dagegen wird der Stil von der Tatsache beeinflusst und geformt, dass ich für ein unbekanntes Publikum schreibe. Ob Oper oder griechisches Drama – man muss wissen, wie man rasch in ein Thema einsteigt, weil man nicht davon ausgehen kann, dass das Publikum wartet, bis es etwas verstanden hat. Man muss in der Lage sein, die Menschen in deren eigener Sprache anzusprechen und den Leser ein wenig zu
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