Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)
kultivierte Onkel Loterman, der meine Fehlerkorrektur bemerkte. Schon früh und bis zum Eintritt in die dritte Klasse der Realschule wurde ich von diesem Onkel unterrichtet – in der Wohnung, in der ich geboren wurde und wo diese folgenreiche Abendgesellschaft des Jahres 1930 stattfand. Offiziell begründete Mutter es mit der Furcht vor Epidemien. Ich bin sicher, dass der Onkel dafür bezahlt wurde; möglicherweise wurde ich von Mutter erst in die öffentliche Schule geschickt, als das Geld knapp wurde.
Ein liebevoller Hauslehrer ist wunderbar, aber des Onkels Mängel hinsichtlich Erfahrung, Organisation und Didaktik haben mich für mein Leben geprägt. Er war ein chronisch unterbeschäftigter Intellektueller, der jedes Auswendiglernen verachtete, was sogar das Alphabet und die Multiplikationstabelle betraf, und beides macht mir bis heute leichte Schwierigkeiten. In kleinen Ländern gedeiht jedoch eine breite Neugier. Der Onkel machte mich zum geschickten Schnellleser. Wir diskutierten über meine Lektüre, und auch die laufenden Ereignisse waren – leider – selten langweilig. Er erzählte Geschichten aus dem Altertum und schulte mein Gedächtnis und meinen Geist auf unabhängige und kreative Weise. Wir spielten Schach ohne Ende. Sein Haushalt war wie der von Vater voller Landkarten; ich las darin und prägte sie mir ein. Diese Erfahrungen richteten sicher keinen Schaden an. Ich weiß noch, dass ich mir Daten und Zahlen stets aufgereiht auf einer unendlichen geistigen Geraden vorgestellt habe. Vielleicht haben das Schachspiel und die Landkarten ja dazu beigetragen, dass ich diese geometrische Intuition entwickeln konnte, die zu meinem wichtigsten geistigen Werkzeug werden sollte, als ich Wissenschaftler wurde.
Der heimische Unterricht stellte die erste Stufe eines eigentümlichen Bildungswegs dar, der hier und da durch die Katastrophen des Jahrhunderts vorangetrieben wurde und chaotisch zwischen kurzen Perioden relativer »Normalität« und längeren voller Durcheinander schwankte. In manchen Dingen erwarb ich mir große Fertigkeiten, blieb aber in formaler Hinsicht vielfach äußerst unausgebildet – sowohl in der Schule als auch im realen Leben. Zum Glück waren die offensichtlichen Lücken in meiner formalen Bildung jedoch weniger tödlich als befürchtet.
Die zweite polnische Republik, eine frühe Geschichtslektion
Meine Familie und meine Freunde hielten es für gewiss, dass vergangene und gegenwärtige Ereignisse ernste und unmittelbare Auswirkungen haben konnten. Deshalb wurden historische Ereignisse endlos diskutiert – ich hörte stets zu und ordnete alles in mein Denken ein. Das heute kleine Litauen war einmal eine bedeutende katholische Großmacht, deren Gebiet sich von der Ostsee durch die westliche Ukraine bis zum Schwarzen Meer erstreckte. Im Mittelalter kam es zur Vereinigung zweier Dynastien, bei der das ausgedehnte Großherzogtum Litauen und das kleinere Königreich Polen – zwei katholische Bollwerke gegen die Orthodoxie des Ostens – teilweise miteinander verschmolzen. Einige Zeit später bezeichnete die Union sich selbst als Staatenbund, der von einem durch einstimmigen Beschluss des Adels gewählten König regiert wurde. Da die Abstimmung schon durch einen einzigen Adligen gekippt werden konnte, brauchten die Thronkandidaten tiefe Taschen. Folglich waren mehrere polnische Könige Ungarn, Sachsen oder Schweden.
Ein König von Polen und Schweden ersetzte die alten Hauptstädte Krakau und Vilnius durch Warschau, damals ein kleiner Hafen am höchsten Punkt der Weichsel, der für seegängige Schiffe erreichbar war. Nach europäischen Maßstäben hat Warschau – wie Berlin oder Madrid – eine kurze Geschichte und daher nur wenige historische Wahrzeichen.
Der polnische Staatenbund überdauerte länger als erwartet. Doch 1772, 1793 und 1795 zerfiel er ohne militärische Eroberung und wurde unter den drei Reichen Preußen, Österreich-Ungarn und Russland entlang ihrer Grenzen aufgeteilt. Im Osten kamen zu den wenigen bis dahin angesiedelten russischen Juden – darunter einige protegierte Händler der Ersten Gilde (von drei) – massenhaft ehemalige polnische Juden hinzu, die dem Zaren irgendwie als Bedrohung erschienen. Deshalb blieb die östliche Grenze des polnischen Staatenbunds vor seiner Aufteilung als östlicher Rand der »Gemarkung« bis 1917 bestehen – dort konnten Juden legal leben. Der russische Antisemitismus kam erst auf, nachdem Polen zusammengebrochen war.
Nachdem die
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