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Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)

Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)

Titel: Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benoît B. Mandelbrot
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und Sport unterrichtete und jedes Jahr zusammen mit ihrer Klasse »aufrückte«. Sobald diese Klasse ihren Abschluss hatte, wurde die Lehrerin wieder in die erste Klasse »zurückgestuft«.
    Die vier Jahre, die ich in Frau Goldszlakowas Klasse zubrachte, waren eine jener »normalen« Perioden, die während meiner Schulzeit beständig von höchst »abnormen« Zeiten abgelöst wurden.

Ein langer Sommer im heutigen Weißrussland
    Mit zehn Jahren verbrachte ich einen unvergesslichen, exotischen Sommer in einem Gebiet, das damals Ostpolen hieß und heute fast in der Mitte des unabhängigen Weißrussland liegt. Bald nach meiner Ankunft warnte man mich streng: »Pass auf, wenn du in Richtung Sonnenaufgang gehst, kommst du schnell an eine große hölzerne Wand, die von Wachttürmen unterbrochen wird – mit freiem Schussfeld davor. Halt dich fern. Manchmal sind Soldaten auf den Wachttürmen, und sie schießen ohne Vorwarnung.« So kam ich zu einem ersten Blick auf die gefürchtete Sowjetunion – quer über eine Wiese, die von westlichen Diplomaten und sowjetischen Kommissaren beiläufig geteilt worden war. Ich hielt mich fern.
    Die Ukasse (Gesetze) des zaristischen Russland begannen mit der Formel »Wir, Zar aller Russen, König von Polen, Großherzog von Finnland …«. Ein Zar herrschte über drei verschiedene russische Länder. Die »belarussische« wurde auch weißrussische Sprache genannt – wobei kein Zusammenhang mit den Russen unter der weißen kaiserlichen Flagge besteht, die den Bürgerkrieg gegen die roten russischen Kommunisten verloren hatten. Diese Sprache ist dem Polnischen – meiner Muttersprache, die damals auch meine einzige war – ziemlich nah. Noch enger verwandt ist sie mit dem »Kleinrussischen«, das heute Ukrainisch heißt, und mit der normalen »großrussischen« Sprache, die Mutter (sie hatte einen russischen Universitätsabschluss) mit einigen verlässlichen Freunden sprach, wenn die polnische Sprachpolizei nicht zuhörte. Weißrusslands mäandrierende Flüsse und seine endlosen tiefen Sümpfe sind ein Hindernis für Eroberungen, aber auch für den Fortschritt. Meinen Sommer dort verbrachte ich in einem Weiler mit wenigen Bauernhöfen auf mehr oder weniger flachem Land, einer Brücke und einer Wassermühle an einem kleinen Fluss. Der polnische Name schrieb sich Połoczanka und wurde etwa wie Powotschanka ausgesprochen. Die nächste kleine Stadt war Raków. Die Karte von 1938 zeigt sie am äußersten Rand der Welt, am Schnittpunkt der beiden damals polnischen Provinzen und dem sowjetischen Belarussland.
    Meine großzügige Gastgeberin war Frau Goldberg, deren Schwester, Frau Wigdorczyk, Mutters beste Freundin in Warschau war. Dadurch war dieses Dorf eine sichere Zuflucht vor der Sommerhitze und dem Schmutz der Stadt. Frau Wigdorczyk fuhr geschäftlich in den Osten und machte einen Umweg, um mich zu begleiten.

    Bis hinauf nach Wilno nahmen wir den modernen Zug Paris-Leningrad, der auf der normalen westeuropäischen Spurbreite unterwegs war und später in Russland auf die dortige breitere Spur umgestellt wurde. In Wilno stiegen wir in ein Breitspur-Überbleibsel aus dem 19.Jahrhundert um – voller alt aussehender Frauen, die große, schwere Bündel mit sich schleppten. Der Karte zufolge führten die Schienen weiter zur sowjetischen Grenze, in die weißrussische Hauptstadt Minsk und darüber hinaus, doch damals endete der Passagierverkehr in Mołodeczno.
    Der uns erwartende Pferdekarren stand für eine exotische Welt, die ich von Illustrationen in alten russischen Romanen kannte. Wir fuhren immer weiter, immer tiefer in den Wald und – so empfand ich das – in die Vergangenheit. Schließlich erreichten wir eine wirklich altertümliche Izba oder Hütte; auch sie ähnelte jenen der Romanillustrationen: mit sehr niedriger Decke und Strohdach, halb in die Erde eingegraben, wenige winzige Fenster als Schutz gegen das raue Wetter. Ein Emailleschild wie die Straßenschilder von Großstädten trug die Nummer des Hofs (ich weiß noch, dass es 24 war), den Namen des Pächters und das Anfangsdatum seiner Pacht.
    Die meisten Einheimischen sprachen Jiddisch, Weißrussisch oder beides. Einfaches Weißrussisch war nicht schwer, und so konnte ich allen die großstädtischen Wunder Warschaus schildern und auch dem lokalen Tratsch folgen. Der Hof gehörte einem polnischen Adligen, dem »kleinen Grafen«, der Gerüchten zufolge 100 Bauernhöfe besaß und in Warschau lebte. Herr Goldberg konnte lesen und

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