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Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)

Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)

Titel: Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benoît B. Mandelbrot
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schreiben und handelte in gewissem Umfang als Vertreter »seines« Grafen.
    Man hatte mir erzählt, dass wir von Mołodeczno aus »40 Werst« zurückgelegt hatten, und so konnte der kleine Klugscheißer, der ich damals war, schließlich und endlich herausfinden, wie viele Meter (etwa ein Kilometer) ein Werst tatsächlich hatte. Die Lehrbücher blieben in diesem Punkt vage – aus gutem Grund, wie die Einheimischen mir bald erklärten. Angesichts der Art der Straßen gab es einen Sommerwerst und einen Winterwerst. Beide waren ein ungefähres Zeitmaß. Wie im Wilden Westen der USA konnte man lange Zeit in einer ausgefahrenen Spur hängen bleiben, weshalb man eine Reise mit einer sorgfältigen Wahl der Karrenspur begann.
    Zu unterschiedlichen Zeiten füllte sich der staubige Platz des Weilers mit Nutztieren, die frei herumliefen. Ein junger Bulle und eine Kuh lehrten mich, was es mit den Vögeln und den Bienen so auf sich hat. Ebenso lebhaft ist mir ein Bursche in Erinnerung geblieben, der von Hof zu Hof zog und die Ferkel kastrierte. Keine Betäubung, keine Vorkehrungen gegen Erreger während oder nach dem Eingriff, nur ein schnelles Messer und quiekende Tiere, die zu ihrem Schlammloch zurückrannten. Der Sohn einer Zahnärztin konnte nicht anders, als fasziniert und erschrocken zuzusehen.
    Schon bald konnte ich etwas klären, was meine brennende Neugier geweckt hatte. Ich ging zu einem Nachbarn, der barfuß auf einer Steinmauer saß, und brachte es fertig, ihn zu fragen: »Warum hast du keine Zehen?« – »Weil ich alt bin.« – »Aber das ist meine Mutter auch, und die hat Zehen.« – »Weil mir mehrmals die Füße erfroren und die Zehen abgefallen sind.« Seine ebenfalls zehnjährige Tochter war meine Freundin, wie alt mochte er also sein?
    Der einzige immer wieder spannende Ort des Weilers war die kleine Wassermühle an einem Stau von etwa einem Meter Höhe, und der Einzige, der polnisch sprach, war Josef, der Müller.
    Zu meiner Überraschung wurde in der Mühle kein Getreide gemahlen, sondern Wolle »gewalkt« – von diesem Verfahren hatte ich noch nie etwas gehört. Einst war es in ganz Europa von großer Bedeutung gewesen. Wenn die Bauern im Winter wegen des Schnees nicht aus dem Haus konnten, versponnen sie die Wolle ihrer Schafe zu einem sehr groben Faden und webten daraus einen sehr rauen Stoff zu quadratischen Packen. Dieser Stoff wurde zusammen mit einer schwarzen oder braunen Grundfarbe in heißem Wasser mit großen Holzblöcken gestampft. Am Mühlrad angebrachte Zapfen hoben diese Blöcke an und ließen sie dann fallen.
    Wenn ich nicht mit den anderen Gören im Dreck spielte, streifte ich endlos durch Felder und Wälder und suchte erfolgreich nach Pilzen.
    Die Goldbergs wagten nicht, mich allein nach Warschau zurückkehren zu lassen, und so hing ich dort noch herum, als die Roggenernte begann – Weizen wäre dort nicht gewachsen. Ich bot meine Hilfe an, doch weil gerade jüdisches Neujahr war, erlaubten mir die Nachbarn nur, dabei zuzusehen. Frauen von mehreren Höfen bewegten sich in einer langen Linie gebückt über das Feld. Sensen waren entweder unbekannt oder auf dem unebenen Untergrund nutzlos. Die Sicheln, die sie stattdessen verwendeten, waren eine Erklärung für das Wappen der Sowjets: Zusammen mit dem sie kreuzenden Hammer waren sie das Symbol der ausgebeuteten Bauern und Arbeiter. Männer gingen hinter den Frauen her und bündelten den Roggen in dicken Garben, dann folgten wieder Frauen, die herabgefallene Körner auflasen. Aus der Entfernung, wenn der Schweiß nicht zu riechen war, bot sich dem Auge eine Postkartenidylle wie aus dem biblischen Buch Ruth!
    Schließlich hörten die Goldbergs von einer jungen Frau aus Raków, die vorhatte, auf ihrem Weg zu einer Kolonie in Palästina eine Schule für zionistische Pioniere in Warschau zu besuchen. Sie willigte ein, mich nach Warschau mitzunehmen. Wir bestiegen den nächtlichen Bummelzug nach Wilno. Dort auf dem Bahnsteig auf den nächsten Frühzug nach Warschau zu warten war für mich schon fast wie zu Hause; sie dagegen kam sich verloren vor und hatte Heimweh – ich musste sie beruhigen. Ein Telegrammbote kam vorbei; vor der Brust trug er einen Kasten, der als mobiles Schreibpult diente. Sie hielt den Boten an und bestand darauf, ein Telegramm zu bezahlen, mit dem Mutter meine Ankunft mitgeteilt werden sollte. Als aufgeweckter Stadtjunge kannte ich mich mit dem »Telegrammstil« aus und behauptete, Mutter würde es verstehen, wenn im

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