Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)
westlichen Verbündeten Deutschland und Österreich (1918) und Polen dann Trotzkis bolschewistische Armee (1920) geschlagen hatten, erlangte das Land erneut die Unabhängigkeit mit erweiterten, nicht exakt begründbaren Grenzen. Aus diesen und anderen wahrhaft unvermeidlichen Gründen verlief die Geschichte Polens von 1919 bis 1939 unruhig. Von seiner Westgrenze aus hatte es über einen Deutschland und die Freie Stadt Danzig trennenden Korridor Zugang zum Meer. In den östlichen Landesteilen bestand die Oberklasse vorwiegend aus Polen, während der größte Teil der Bevölkerung aus feindseligen Litauern, Weißrussen oder Ukrainern bestand. Die vollkommen ausgegrenzten Zigeuner in ihrer typischen farbenfrohen Kleidung waren nicht zu übersehen. Insgesamt kannten die neuen Bürger Polens einander kaum. Die ethnischen Polen, besonders die relativ verwöhnten ehemaligen Untertanen der Habsburger im Süden, waren enttäuscht, dass die Einheit keine Harmonie mit sich brachte.
Nach der Wiedervereinigung Polens erklärte Ignacy Paderewski, der berühmte Chopin-Pianist und kurzzeitige Präsident Polens, um 1920 die Juden offiziell zur einzigen Ursache aller wirtschaftlichen und sozialen Übel. Es war diese polnische Republik, mit der wir Bekanntschaft machten.
Arbeitslosigkeit war vor allem nach Einsetzen der Weltwirtschaftskrise weitverbreitet und hielt lange an. Viele Menschen wanderten aus. Polnische Bauern wurden rasch zu französischen Bergarbeitern. Vaters jüngste Schwester Regina heiratete einen Mann, der Züge voller Juden aus den Stetlech direkt nach Bremen schickte, wo die Leute ins Zwischendeck wartender Dampfer für die Vereinigten Staaten umstiegen. Sein Plan, selbst das letzte Schiff zu nehmen, wurde durchkreuzt, als die USA für Polen eine winzige Quote festsetzten.
Die nachdrückliche Assimilierung wurde plötzlich radikal auf den Kopf gestellt. Frühere Versuche über mehr als 100 Jahre, aus bunt gemischten Underdogs richtige Russen, Österreicher oder Deutsche zu machen, wichen Bemühungen, sie entweder zu vergraulen oder zu Polen zu machen. Eines Tages hatte meine Grundschullehrerin Anweisungen bekommen, der Klasse eine offizielle Verlautbarung vorzulesen, die Bestandteil unseres Lehrbuchs wurde. »Polen ist ein glückliches multinationales Land, in dem alle ethnischen Probleme der Vergangenheit gelöst worden sind.« Sie schaute die Klasse an und zwinkerte uns tatsächlich zu. Wir wussten alle, was gemeint war.
Weder Polen noch seine diversen Bürger kamen gut zurecht. Auch kaum einem anderen Land gelang – oder gelingt – das viel besser. Man versuchte es mit ethnischen Säuberungen, aber das funktionierte nicht. Da Vielfalt nun einmal nicht zu vermeiden ist, kann man sie ebenso gut gleich mögen (wie es bei mir inzwischen der Fall ist) oder zumindest lernen, damit zu leben.
Polnische Grundschulen
Der brennende Wunsch, die verlorene nationale Einheit wiederherzustellen, brachte Polen 1919 dazu, eine intensive, obligatorische Grundschulerziehung einzuführen. In Warschau wurden die Schulen nur nach Religionszugehörigkeit getrennt, das heißt, mit Ausnahme spezieller Unterrichtsstunden bei einem Priester oder Rabbi gab es einheitliche Lehrpläne. In den jüdischen Schulen wurde kein Hebräisch gelehrt – ich »studierte« es unsystematisch zu Hause, weshalb ich es nie richtig gelernt habe.
Bei dieser Trennung gab es kaum Ausnahmen, doch das neue polnische Erziehungssystem – kurz zuvor von Intellektuellen entwickelt und von Moden und Dogmen beeinflusst – bestimmte, dass ein Kind nicht gedemütigt werden sollte. Deshalb wurde Bruder Léon, der wegen einer Krankheit ein Jahr verloren hatte, an die nächstgelegene öffentliche Schule überwiesen, die zufällig katholisch war.
© Benoît B. Mandelbrot Archives
Die armen und zur Eile angehaltenen Behörden improvisierten heftig, um vorhandene Räumlichkeiten umzuwidmen. Meine öffentliche Knabenschule Nr. 24 bestand aus zwei miteinander verbundenen Wohnungen in einem ziemlich hoch gelegenen Stockwerk (mir scheint, es war das fünfte) eines Wohngebäudes, das den gesamten umfangreichen Straßenblock über einem übel riechenden Fischgroßmarkt einnahm. Die Klassengröße musste sich nach der Raumgröße richten. Ein Raum hatte keine Tische und diente als Pausenzimmer, das verschiedene Klassen umschichtig zu nutzen hatten. Das neue polnische Erziehungssystem betrachtete Lehrerinnen als Elternersatz, weshalb dieselbe Person alles außer Religion
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