Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)
zum Schaden der Juden. Ein erbärmlicher, possenhafter und Furcht erregender Oberst Beck wurde Außenminister und rühmte sich öffentlich, er könne Hitler austricksen.
Sollten wir ohne einen Gedanken an Rückkehr unsere Wurzeln ausreißen? Der Zeitpunkt war wegen meines Alters genau richtig, aber auch schrecklich, weil die Lage meines Vaters in Paris prekär war und Mutter ihren Beruf und ihr Einkommen hätte aufgeben müssen. Mirkas Erlebnis brachte das Fass dann zum Überlaufen: Polen war nicht das Land, das meine Eltern sich für ihre Söhne wünschten. Die Entscheidung war gefallen.
Unsere letzten Wochen in Warschau zogen sich in die Länge. Ich erinnere mich nicht an den Grund; vielleicht waren die Visa noch nicht unterschrieben, oder unsere Wohnung in Paris war nicht verfügbar. Doch unser Mietverhältnis war abgelaufen, und unser früherer Vermieter trieb uns unablässig zur Eile an, weil er die Wohnung für seinen Sohn renovieren wollte. Ein Gefolgsmann von ihm bezahlte Mutter ein paar Kröten dafür, dass er ausbaute, was ich für eine elegante Trennwand hielt, und sie auf einem Handkarren fortschaffte. Wir rückten in Rayas Wohnung/Praxis in der Ulica Nowolipki zusammen und verließen unsere Wohnung mit einer scheinbar ungeheuren Menge Gepäck – einschließlich schwerer Federbetten, unabdingbar in den kalten Wintern Warschaus, aber nicht in Paris.
Diese Episode stellte nicht nur mein letztes wichtiges Erlebnis in Polen dar, sondern auch das erste, in dem ich unmittelbar von nacktem Antisemitismus betroffen war. Diese Erinnerung weicht von denen der meisten Überlebenden ab und zeigt nur, dass ich ein wohlbehütetes Kind war. Der polnische Antisemitismus, ob offiziell oder im Volk, legte alle Parameter meines Lebens fest, allerdings nur indirekt, außerhalb der Familie. Ohne Fernsehen und mit nur wenig Rundfunk wurde die Außenwelt zwar unablässig diskutiert, war aber die meiste Zeit fern und fast abstrakt. Auch wenn ich mich bemühe, kann ich mich nicht erinnern, dass Bruder Léon sich über eine schlechte Behandlung in seiner katholischen Schule beklagte. Mir fällt nur ein, dass man mich einmal herumschubste und beleidigte, als unsere Klasse bei einem Kinobesuch neben einer Klasse aus der Schule einer Pfarrei saß.
Noch ehe alles, was meine Eltern befürchtet hatten, in Polen fürchterlich konkret wurde, hatte ihr kühner Plan funktioniert. Wir befanden uns in Südfrankreich, wo wir wie Einheimische aussahen und klangen und viele loyale Freunde unter den Ortsansässigen fanden.
Wie brachte Vater es zuwege, für Frau und Söhne Visa zu organisieren? Ehrlich gesagt erinnere ich mich nicht mehr, doch Bruder Léon hat einmal erwähnt, wir hätten von einem kurzzeitig aufgelegten Programm profitiert, über das Familien zusammengeführt wurden, die durch wirtschaftliche Härten auseinandergerissen worden waren. In unserem Bekanntenkreis wanderten nur meine Eltern nach Frankreich aus und überlebten. Die meisten Leute, die wir kannten, zauderten – bis die Zeiten schrecklich wurden. Nur zwei Warschauer Freunde überlebten: Frau Braude, die direkt über uns wohnte, verlor ihren Ehemann, kam aber nach dem Krieg mit ihrer Tochter, die in meinem Alter war, nach Paris. Sie rief Mutter an, und beide erneuerten ihre Freundschaft. Andere waren wegen ihres kostbaren Porzellans hängen geblieben oder nicht imstande gewesen, den großen Bösendorfer Konzertflügel zu verkaufen, oder sie hatten den schönen Ausblick auf den Park nicht aufgeben wollen. Mutter war entsetzt über ihre Geschichten, hörte sie sich aber mit versteinerter Miene an.
3
Als Heranwachsender in Paris
(1936–1939)
Es schien, als würden auf dem Warschauer Endbahnhof der internationalen Strecken Hunderte von Menschen – Angehörige, Kollegen, Nachbarn, Freunde, ehemalige Patienten und sogar bloße Bekanntschaften – darum wetteifern, Mutter ihre besten Wünsche aussprechen zu dürfen. Jeder hinterließ ein kleines Geschenk, oft eine Schachtel mit der ausgezeichneten polnischen Schokolade. Alle wünschten – recht glaubwürdig –, sie könnten mitkommen. Ein endloser und sehr gefühlvoller Abschied.
Von heute auf morgen machte ich die erste von vielen Erfahrungen mit Sonderzügen, den Vorläufern der Charterflugzeuge voller Flüchtlinge. Die Fahrt war sehr billig, doch der Zug war alt und langsam; er fuhr nach einem sonderbaren Fahrplan und blieb oft stehen, um einen Schnellzug mit voll zahlenden Fahrgästen überholen zu lassen.
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