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Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)

Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)

Titel: Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benoît B. Mandelbrot
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Telegramm nur »1600« stünde. Sie wollte es jedoch narrensicher und diktierte: »Ich werde um 4 Uhr nachmittags in Warschau ankommen. Bitte komm. Hab dich lieb. Dein Sohn.« Sie war älter als ich, und es war ihr Geld; wie hätte ich mich widersetzen können?
    Bei der Ankunft im großen, lärmerfüllten Bahnhof in Warschau war die junge Frau fern der Heimat in völliger Auflösung begriffen. Doch dieses Stadium ihres Leidenswegs war nun beendet: Mutter war da, organisierte eine Pferdedroschke, die sie zu ihrer Schule der Pioniere bringen sollte, und nahm mich mit nach Hause.
    Połoczanka selbst scheint den Krieg nicht überdauert zu haben. Was mag mit meinen Freunden dort geschehen sein?

Gefangen im eigenen Land, träumen wir vom Entkommen
    Im Warschau der 1930er-Jahre war die Wirtschaftskrise schrecklich, und die ohnehin schon üblen ethnischen und politischen Zwistigkeiten verschlimmerten sich noch. Meine Eltern, sehr rational denkende und entschiedene Leute, welche die Ereignisse in Deutschland und Russland genau verfolgten, kamen zu dem Schluss, dass unsere Aussichten auf ein Glück in Polen sehr schlecht waren. Ein Kind kann keine Lebensentscheidungen treffen, doch ich verstand es, zuzuhören und zu beobachten. Ich bin sicher, meine späteren Einstellungen und Entscheidungen sind schon sehr früh und stark von den Haltungen meiner Familie beeinflusst worden – und auch von den Schritten, die sie unternahmen oder auch nicht.
    Die Lage der Juden in Polen wurde als verzweifelt erkannt, aber was konnte man tun? Sich einer der kommunistischen Parteien anschließen, deren Mitglieder oder Sympathisanten oft durch die Straßen marschierten? Sich in eine Welt des Gebets zurückziehen und das Beste hoffen? Man konnte einer von mehreren konkurrierenden zionistischen Parteien beitreten – ihr Spektrum reichte von pazifistisch bis betont faschistisch. Sollte man durch Auswanderung irgendwo nach der Freiheit suchen?
    Meine Eltern hatten jeden Grund, nicht für den Kommunismus zu schwärmen. Während des blutigen Bürgerkriegs hatte man sie in Charkow in der östlichen Ukraine gefangen genommen. Szolem hielt zu verschiedenen Gelegenheiten Vorträge in Russland – einer davon hatte, wie erwähnt, zu dem Familienfoto anlässlich des folgenreichen Abendessens 1930 geführt – und berichtete, was er sah. Wir wussten alles über die Säuberungen, auch wenn die schlimmsten erst stattfanden, als wir schon in Paris waren. Zudem erinnere ich mich, dass man mich zu einem Ausflug der Zionisten eingeladen hatte, bei dem die sehr jungen Leute bekehrt werden sollten. Als Mutter meinen Bericht über deren Ansichten hörte, erklärte sie, das seien absolute Faschisten, und verbot mir, sie wiederzusehen.
    Es musste dringend etwas unternommen werden, doch jede Option schloss hohe Risiken und Kosten ein. Meine Familie betrachtete jede radikal einfache Lösung mit ausgesprochenem Misstrauen, und es hat mich für das ganze Leben geprägt, dass ich bei all diesen endlosen Szenarien und Argumenten zuhörte.

Winkelzüge
    Meine brillante Cousine ersten Grades Mirka, ein Jahr älter als ich, sah sich mehreren Problemen gegenüber. Das wiederauferstandene Polen kümmerte sich zwar intensiv um Grundschulen, betrachtete höhere Schulen aber offensichtlich als weniger wichtig. Bei der fürchterlich schwierigen Aufnahmeprüfung für die einzige angemessene höhere Schule in Warschau hatte Mirka den ersten Platz belegt, war aber von Mädchen mit besser vernetzten Eltern aus der Quote für Juden verdrängt worden. Als Onkel Szolem davon erfuhr, sprach er mit Kollegen in Paris, die an einflussreiche Kontaktpersonen in Warschau schrieben. Die Briefe gelangten immer weiter nach oben – und schließlich wurde Mirka aufgenommen.
    Wer war die einflussreiche Person, die Mirkas Aufnahme »regelte«? Es war der politisch aktivste und mächtigste Mathematiker Polens, Wacław Sierpiński! In meinem Leben spielte er immer nur indirekt und unbeabsichtigt eine Rolle – doch die kann man nicht hoch genug einschätzen. Um das Jahr 1920 veranlasste er Szolem, nach Frankreich zu gehen, und er beeinflusste meine Arbeit bis 1970.

Wir kappen unsere Wurzeln und ziehen nach Frankreich
    Für mich war 1936 der Zeitpunkt gekommen, diese Aufnahmeprüfung zu absolvieren, und die Zahl der Oberschulen für Knaben war ebenfalls winzig. Abgesehen davon vollzog die Politik nach dem Tod Piłsudskis (1867–1936), Polens herausragender politischer Gestalt, eine scharfe Kehrtwende

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