Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)
erhielt man, indem man rote und blaue Bilder hinzufügte, die viel verwaschener waren als das grüne.
Einige Kollegen bei Philips mühten sich damit ab, das Schwarzweiß-Ikonoskop zu verbessern. Dazu entwarfen und bauten sie im Labor eine erlesen komplizierte Apparatur namens Superikonoskop. Ein Fehlschlag nach dem anderen – dann der Durchbruch. Kurz darauf hatten diese Ingenieure einen dauerhaften Erfolg erzielt. Man versetzte sie aus dem Labor in eine weit entfernte Fabrik, wo sie mit der Massenfertigung des Apparats begannen.
Nach den Zeiten als Postdoktorand am MIT und am Institute for Advanced Study stellte ich fest, dass Philips keine Verwendung mehr für mich hatte. Die Fernsehsparte war von der Forschung zur Entwicklung vorangeschritten. Meine Zeit bei Philips war kurz, aber ich lernte eine Menge. In gewisser Weise war die Arbeit für die Industrie eine Generalprobe für eine weit länger dauernde Beschäftigung bei IBM, und die Erfahrungen in der Arbeit mit Spektren waren in der Tat sehr nützlich.
1951: Vater stirbt
Vater hatte mich zu Philips bugsiert, und das sollte das letzte Geschenk einer langen Reihe werden. Ich kann mich nicht erinnern, ihn oder Mutter krank im Bett oder bei einem Arzt gesehen zu haben. Sie erklärten das damit, dass weniger vom Glück begünstigte Leute schon früh in einer der Katastrophen zugrunde gegangen wären, die sie überstanden hatten.
Doch der Krebs schlug zu. Zunächst schenkte ihm eine gelungene Nierenoperation noch einige Jahre bei ausreichend guter Gesundheit. Als Nächstes traf ihn der Lungenkrebs. Vater lehnte eine zweite Operation ab, und sein Arzt verschrieb starke Bestrahlungsdosen, die – so oder so – zu einem schnellen Ergebnis führen sollten. Wie wir später herausfanden, waren in allen Enzyklopädien im Haus beim Stichwort »Krebs« Merkzettel angebracht. Außerdem veröffentlichte die Zeitung jeden Tag einen detaillierten Bericht über den aktuellen Zustand seines Leidensgenossen, König George VI. von Großbritannien.
Als mein erster Aufsatz erschien, war Vater so krank, dass ich nicht auf die Nachdrucke warten konnte, sondern das Exemplar einer Bibliothek auslieh. Es war nicht klar, ob er ganz verstand, was ich ihm zeigte. Wenig später starb er.
Chronischer Geldmangel, hoffnungslose Überarbeitung und Vaters erschöpfende Geschäftsreisen – und schließlich seine Krankheit – bedeuteten, dass meine Eltern kaum Gäste bewirten konnten. So erwarteten wir wenige Trauergäste, doch eine kleine Schar begleitete Mutter und ihre zwei Söhne zu Vaters Beerdigung. Szolem war auf Reisen gewesen, weshalb die Zeremonie bis zu seiner Rückkehr aufgeschoben worden war. Vor der Abreise war er vorbeigekommen und hatte sich wie üblich mit den Worten »dann bis bald« verabschiedet. Bei all den Reisen Szolems hatten wir uns gefragt, ob dieses »dann bis bald« in Wahrheit ein Adieu sei.
Zu meiner Überraschung bestand Mutter auf einer religiösen Beisetzung. Der während des Kriegs in Brive lebende Rabbi – vermutlich hatte er den Schutzengel geschickt, der über uns wachen sollte – war passenderweise nach Paris umgezogen, wurde aufgestöbert und willigte ein, den Gottesdienst zu leiten. Seine Grabrede war weder kitschig noch harmlos nett. Mit überraschend vielen persönlichen Einzelheiten und mit sehr warmherzigen Worten erinnerte er daran, dass er im Krieg zwar viele Eltern getroffen hatte, die um ihrer Kinder willen zu jedem persönlichen Opfer bereit gewesen waren – aber keiner sei Vater gleichgekommen.
14
Ein erster Kepler-Moment: Die Zipf-Mandelbrot-Verteilung von Worthäufigkeiten
(1951)
»Schau dir diesen Nachdruck an. Das ist genau die Art dummes Zeug, die nur du mögen kannst.«
Diese Worte Onkel Szolems – am Ende eines Besuchs – stießen eine Tür auf. Die Worte in diesem Nachdruck schienen zunächst engstirnig und banal, dann zutiefst mangelhaft zu sein. Schließlich aber fand ich heraus, wie dieser Mangel zu korrigieren war, und – Überraschung ohne Ende – in der folgenden Stunde erlebte ich meinen ersten Kepler-Moment.
Ich merkte, wie mein Finger von einem komplizierten Räderwerk berührt wurde, das bald den ganzen Körper ergriff – und nie wieder losließ. Und das erinnerte mich wieder an das in der Einleitung erwähnte Märchen von dem herausgezogenen Faden, der ständig neue, ungeahnte Wunder ans Licht bringt.
Dieser Nachdruck führte mich merkwürdigerweise, aber fast unausweichlich zu einigen der wichtigsten Themen
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