Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)
meines wissenschaftlichen Lebens: zu Unregelmäßigkeit, Ungleichheit, Rauheit und dem Konzept sowie dem Wort Fraktalität. Oftmals glaubte ich, dass das Thema fast ausgeschöpft sei, dass nicht mehr viel zu sagen bliebe – aber es kam immer wieder aus einer völlig unerwarteten Richtung zurück.
Eine schicksalhafte Fahrt mit der Metro
Am Ende eines Tages, den ich in der Nähe der Sorbonne verbracht hatte, war es kein großer Umweg, wenn ich – bevor ich die Metro nach Hause nahm – kurz bei Szolem in seiner Wohnung vorbeischaute. Ein Gespräch in seinem Arbeitszimmer wuchs sich häufig zu einer Debatte aus.
Das Zitat am Anfang dieses Kapitels war die Antwort auf meine übliche Frage, ob Szolem mir für die lange Heimfahrt etwas zu lesen mitgeben könne. Aus seinem Papierkorb fischte er an diesem Tag einen Nachdruck, den er kürzlich von dem Harvard-Mathematiker und Präsidenten der amerikanischen Mathematikgesellschaft, Joseph L. Walsh (1895–1973), erhalten hatte. Dieser Nachdruck war eine freundliche Rezension von George Kingsley Zipfs (1902– 1950) Buch Human Behavior and the Principle of Least Effort, die in der beliebten Monatszeitschrift Scientific American erschienen war. Zipf, wohlhabend und somit unabhängig, hielt in allen Fachbereichen Harvards Vorlesungen über ein von ihm erfundenes Gebiet, das er »statistische Humanökologie« nannte. Sein Gegenstand war der verrückteste, den man sich vorstellen kann – eine absurd simple mathematische Formel, die angeblich eine universell gültige Zusammenfassung einer großen Menge empirischer Beobachtungen bildete und wiedergab, wie die Wörter in gewöhnlichen Texten zwischen häufig und selten verteilt sind.
Irgendwie hatte ich angebissen: Zunächst war ich verblüfft, dann vollkommen ungläubig und schließlich hoffnungslos gefangen … bis zum heutigen Tag. Ich sah sofort, dass Zipfs Formel, so wie sie da stand, unmöglich exakt sein konnte. Aber die Fahrt mit der Metro dauerte lange und ich hatte nichts anderes zu tun. Am Ende dieser Fahrt hatte ich eine allgemeinere Version gefunden, die ich begründen konnte und um mein Leben gern mit den Daten konfrontieren wollte. Ich beschloss, diesem seltsamen Weg zu folgen, bis hin zu einer Doktorarbeit. Heute ist sie als Zipf-Mandelbrot-Gesetz bekannt.
Alle – besonders Szolem und Marcel-Paul »Marco« Schützenberger (1920–1996), ein Mann, mit dem ich mich kurz zuvor angefreundet hatte – waren entsetzt. Sie sahen in Zipf einen Spinner! Wörter zu zählen war weder richtige Mathematik noch echte Wissenschaft, noch überhaupt etwas Vernünftiges. Niemand, der auch nur über ein Minimum an technischen Fähigkeiten verfügte, war daran interessiert. Nie würde sich daraus ein anständiger Job ergeben. Keine Professur. Marco beschaffte sich Zipfs Buch und sorgte dafür, dass ich es mir einmal ansah. In der Tat fürchterlich – insgesamt gesehen. Wenn man aber vom Text des Buchs absehen konnte und den Graphen glaubte, dann deckten sie einige Gebiete ab und waren faszinierend. Was Worthäufigkeiten anging, so widersprachen die Kurven eindeutig der Behauptung Zipfs, die Walsh übernommen hatte, aber sie belegten die künftige Zipf-Mandelbrot-Formel!
Also konnte ich meinen Freunden eine Erweiterung von Plutarchs Regel – um das Werk eines Mannes zu bewundern, muss man nicht zwangsläufig den Mann bewundern – entgegenhalten: Wer Teile der Arbeit eines anderen schätzt, muss deshalb nicht all seine Behauptungen gut finden. Die Tatsache, dass das zentrale Besetzungsbüro der Wissenschaft Zipf für einen Exzentriker hielt, war für meine rationale Seite kein hinreichender Grund, ihn gering zu schätzen. Für meine dem Herdentrieb abgeneigte – oder gar rebellische – Seite könnte das vielleicht sogar ein entscheidender Pluspunkt gewesen sein.
Nach kurzer Zeit wurde die Zipf-Mandelbrot-Formel zum Bestandteil meiner Dissertation. Weitere Graphen aus Zipfs Buch füllten anschließend mehrere Jahre mit interessanten Entwicklungen. Als Nächstes löste ich mich von Zipf und ließ zu, dass mein Weg von logischer Notwendigkeit, reinem Zufall oder unerschrockenen Spielereien geleitet wurde. Am Ende führte all das zu den Fraktalen.
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