Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)
konkurrieren müssen. Kastler erkannte jedoch, dass das Schicksal auf meiner Seite war. Die Mathematik bot einen großen Vorteil. Das Abstraktionsniveau fast aller neuen Dissertationen war so extrem geworden, dass er und andere Physikerkollegen meinten, jetzt reiche es. Für angewandte Mathematik sollten ein paar neue Durchlässe reserviert werden, und – ein Wunder – meine Chancen, einen Job unter Dach und Fach zu bringen, könnten tatsächlich eher gut sein.
Dieser Ratschlag erwies sich jenseits aller kurzfristigen Überlegungen hinsichtlich bürokratischer Machenschaften als klug. Um all meine Sehnsüchte um das Jahr 1950 herum und auch meine Lebensleistungen sowohl in der Physik als auch in der Mathematik auf einen Nenner bringen zu können, muss man die Spannweite beider Wissenschaften in einem sehr weiten Sinn verstehen. Üblicherweise hat man Begriffe wie »Mathematik« sehr weit gefasst, und die Physik begann als Randbereich der Mathematik. Vor hundert Jahren trennte sie sich jedoch klar von der Mathematik und auch von den Ingenieurwissenschaften. Erst in jüngster Zeit hat die Physik sich wieder ausgedehnt, sowohl in Richtungen, wo sie nur schwer von der Mathematik zu unterscheiden ist, als auch in Richtungen (Festkörper und weiche Materie), wo sie sich kaum noch von den Ingenieurwissenschaften unterscheidet. So sind beispielsweise in jüngster Zeit einige Physik-Nobelpreise für Arbeiten vergeben worden, die sich in zurückliegenden Jahrzehnten möglicherweise nicht qualifiziert hätten. Damals, im Jahr 1950, als es in meinem Leben von großer Bedeutung war, hatte Kastler recht, meine Arbeit eher der Mathematik im weitesten Sinn zuzurechnen.
Darmois war einverstanden, entschied aber, dass der Vorsitzende meines Prüfungskomitees kein Mathematiker sein müsse. Seine Wahl fiel, was niemand erwartet hatte, auf Duc Louis de Broglie (1892–1987) – mit der offiziellen Begründung, dass de Broglie die interdisziplinäre Arbeit öffentlich pries und dass eine einzigartige Doktorarbeit von einem toleranten, mit hochfliegenden Gedanken vertrauten Professor profitieren würde. 25 Jahre zuvor war dieser Aristokrat eine Schlüsselfigur der Quantentheorie gewesen.
Auf dem Titelblatt jeder französischen Doktorarbeit wurde damals auf eine zweite These unter der Bezeichnung Propositions données par la Faculté (Vorschläge der Fakultät) verwiesen, die aber nicht veröffentlicht wurde. Einer ungeschriebenen Tradition zufolge musste der entsprechende Themenkreis sich stark vom Hauptthema unterscheiden. Ein stark mathematisch geprägtes erstes (reales) Thema konnte durch Zuteilung eines philosophischen Themas aufgewogen werden.
Das mir zugewiesene Thema war sehr lang und stark mathematisch geprägt: Es handelte sich um eine in der damals neuen Dissertation der Mathematikerin Yvonne Choquet Bruhat gefundene Grundsatzfrage: Haben die Gravitationsgleichungen, die Albert Einstein entdeckt hat, eine und nur eine Lösung? Es ist eine Frage, die Physiker nicht interessant fanden, während sie Mathematikern sehr schwierig und damit faszinierend vorkam. Bruhat war der Beweis gelungen, dass es ausreichte, wenn für die Ausgangsbedingungen Ableitungen existierten, die sich zumindest bis zur magischen 7. Ordnung anständig verhielten.
Während der Verteidigung meiner These erörterte ich meine Arbeit einigermaßen elegant, als Darmois sich plötzlich einmischte. »Ihre These ist ausgezeichnet. Aber könnten Sie uns genauer erläutern, warum das Thema Ihrer zweiten These von Bedeutung ist?« Während ich um eine angemessen unverbindliche Antwort rang, übernahm Darmois die Initiative. Er wandte sich dem Vorsitzenden des Prüfungskomitees zu und sah ihn direkt an – es war niemand anderer als de Broglie. Wir wussten, dass Darmois’ frühe Arbeiten in den 1920er-Jahren die Relativitätstheorie behandelt hatten.
An dieser Stelle wurde vollkommen klar, warum Darmois sich als Berichterstatter zur Verfügung gestellt und das zweite Thema vorgeschlagen hatte. Er war bestrebt, als Astronom – sein anfängliches Wissensgebiet – in die Akademie der Wissenschaften gewählt zu werden. Also kam ihm die Gelegenheit gerade recht, sich zwanzig Minuten lang ununterbrochen vor de Broglie, dem ständigen Sekretär der Akademie, zu präsentieren. Dieses politische Manöver war bald von Erfolg gekrönt.
Ich hatte keinen Augenblick lang den Eindruck, dass irgendein Mitglied meines Prüfungskomitees einen ernsthaften Gedanken auf die
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