Schönes Leben noch! (German Edition)
gruselig an, dachte Emily. „Weiß nicht sowieso schon jeder, was in der Vergangenheit passiert ist? Man war doch dabei, oder?“
„Manchmal schon. Aber nicht jeder kann sich deutlich an alles erinnern. Viele Leute halten Tarot für albern.“
„Du auch?“
Bev legte die Karten ab und beugte sich vor. Der lange rote Zopf hing ihr über die Schulter und berührte fast den Tisch.
„Ich glaube, dass ich eine Gabe habe. Ich kann Dinge sehen, die andere nicht sehen können. Du kannst zum Beispiel gut lesen. Du liest besser als viele deiner Freunde. Das ist auch eine Gabe, nicht wahr?“
Emily nickte.
„Dass du gut liest, ist etwas, das man sehen kann. Das hat nichts mit Glauben zu tun. Aber meine Gabe ist etwas anders. Man kann sie weder sehen noch anfassen. Und während ich daran glaube, tun andere das noch lange nicht.“
Emily meinte zu verstehen. „Glaubt Jill daran?“
Bev lachte. „Eine interessante Frage. Meine Nichte gehört zu meinen größten Skeptikern.“
Emily war schockiert. „Sie denkt, dass du lügst?“
„Nein. Sie denkt, ich würde mir die Sachen ausdenken.“
„Und? Machst du das?“
„Nein.“
Emily versuchte, das zu verstehen. „Die Karten verraten dir also, was morgen geschehen wird?“
„Nicht ausdrücklich. Sie geben mir eine Ahnung. Glück, Pech, so in die Richtung. Die Leute kommen mit Fragen zu mir, und ich versuche, ihnen dabei zu helfen, die Antworten zu finden.“
„Wow.“ Das klang ziemlich aufregend. Wenn Emily die Zukunft kennen würde … Sie dachte nicht weiter darüber nach. Es gab viel zu viele dunkle Orte, die sie nicht betreten wollte.
„Meine Gabe bringt viel Verantwortung mit sich. Weißt du, was Verantwortung ist?“
Emily nickte. „Du musst das Richtige tun und du musst auch daran denken, wenn es dir niemand sagt. Wie bei einem Haustier. Ich muss es füttern und so, auch wenn Mom mich nicht daran erinnert. Oder meine Hausaufgaben – die muss ich auch machen, ohne daran erinnert zu werden.“
„Stimmt genau. Ich muss mir gut überlegen, was ich den Leuten sage. Einige treffen auf der Grundlage unserer Unterhaltung Entscheidungen, und ich möchte nicht, dass sie einen Fehler machen.“
Emily verstand, dass das schlimm sein könnte. „Hast du manchmal Angst?“
„Selten. Aber es ist schon vorgekommen. Außerdem muss ich für meine Gabe rein bleiben.“
„Rein?“
Bev grinste. „Das ist wie sauber bleiben, nur für Erwachsene.“ Sie beugte sich noch ein Stückchen vor. „Emily, wenn du eine Sache über die Zukunft erfahren könntest, was wäre das?“
Emily machte sich in ihrem Stuhl ganz klein. „Nichts. Ich will gar nichts wissen.“
„Bist du sicher?“
Sie nickte eifrig. Sie wollte nichts wissen. Was, wenn ihre Momsie genauso im Stich ließe wie ihr Dad? Was, wenn ihr Dad sie nicht mehr lieb hatte? Was, wenn sie ganz allein wäre und nicht wüsste, wo sie hingehen sollte?
Ihr Magen verkrampfte sich so doll, dass sie dachte, sie müsste sich übergeben.
Bev setzte sich aufrecht hin und nahm ihre Karten wieder auf. „Eines weiß ich auch, ohne dass es mir die Tarot-Karten sagen, nämlich wie besonders du bist. Ich genieße es, dass du bei mir bist. Ich fürchte, der Sommer wird blitzschnell vorbei sein, und dann bist du wieder weg und ich werde dich ganz schrecklich vermissen. Und wenn ich dich schon vermissen werde, obwohl ich dich gerade erst kennengelernt habe, muss es für deine Mom gerade ziemlich schwer sein. Sie kennt dich ja schon dein ganzes Leben lang.“
Darüber hatte Emily auch schon nachgedacht. „Jedenfalls hat sie gesagt, dass sie mich vermisst.“
„Natürlich. Du bist Teil ihres Tages. Sie vermisst dich genau so, wie dich dein Dad vermisst hat, während er von dir getrennt war.“
Da war Emily sich gar nicht so sicher. „Er hat nie angerufen oder so.“
Bev nickte. „Manchmal passiert das. Wenn Erwachsene einen großen Fehler machen, fühlen sie sich oft schuldig und wissen nicht, was sie tun sollen, um es wiedergutzumachen. Vor allem bei Kindern. Wie viel sollen wir sagen? Wie viel versteht ihr Kinder? Aber nun, da du bei deinem Dad bist, kann man die Liebe in seinen Augen sehen. Und wie.“
Emily starrte sie an. „Wirklich?“
„H-hm. Jedes Mal, wenn er hier hereinkommt, fängt sein Gesicht zu strahlen an. Und zwar so sehr, dass man ihn glatt für eine Lampe halten könnte.“
Emily kicherte bei der Vorstellung, dass ihr Dad einen Lampenschirm auf dem Kopf hat. „Du bist
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