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Schönheit der toten Mädchen

Schönheit der toten Mädchen

Titel: Schönheit der toten Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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bin sicher, daß der Schuldige zusammenbricht. Wenn er bei Tageslicht sieht, was sein anderes ›Ich‹ anstellt, wird er sich verraten, ganz sicher. Das ist Psychologie, Tulpow. Führen wir also ein Experiment durch.«
    Anissi mußte plötzlich daran denken, wie seine Mutter ihm als Kind ein Märchen erzählte und den Hahn Petja mit jämmerlicher Stimme wehklagen ließ: »Der Fuchs trägt mich durch blaue Wälder, über hohe Berge, in tiefe Höhlen …«
    Erast Petrowitsch, Chef, es steht schlecht, ganz schlecht.
     
    An der Vorbereitung des »Untersuchungsexperiments« beteiligte sich Anissi nicht. Er saß in Sacharows Arbeitszimmer, und um nicht an seinen Patzer denken zu müssen, las er in der Zeitung auf dem Tisch wahllos alle Meldungen.
    Die »Moskauer Nachrichten« vom 6. (18.) April teilten mit:
     
    BAU DES EIFFELTURMS BEENDET
    Paris
. Wie die Agentur Reuter meldet, ist das gigantische und völlig nutzlose Bauwerk aus Eisenstäben, mit dem die Franzosen die Besucher der 15. Weltausstellung zu verblüffen gedenken, endlich fertiggestellt. Dieses gefährliche Unterfangen weckte erwartungsgemäß Unmut unter der Pariser Bevölkerung. Kann man dulden, daß Paris überragt wird von einem endlosen Fabrikschlot, der mit seiner lächerlichenHöhe die wunderbaren Monumente der Hauptstadt herabwürdigt? Erfahrene Ingenieure bezweifeln, daß ein so hohes und vergleichsweise schmales Bauwerk, errichtet auf einem Fundament, das nur ein Drittel seiner Höhe ausmacht, dem Druck des Windes standhalten kann.
     
    DUELL AUF SÄBEL
    Rom
. Ganz Italien spricht von dem Duell, das zwischen General Andreotti und dem Abgeordneten Cavallo stattgefunden hat. Vergangene Woche hatte General Andreotti in seiner Rede vor Veteranen der Schlacht von Solferino sich besorgt über die jüdische Übermacht in der Zeitungs- und Verlagsbranche Europas geäußert. Der Abgeordnete Cavallo, von Geburt Jude, fühlte sich durch diese völlig gerechtfertigte Behauptung verletzt und nannte in seiner Rede vor dem Parlament den General einen »sizilianischen Esel«, woraufhin der General ihn zum Duell forderte. Andreotti wurde beim zweiten Ausfall leicht an der Schulter verletzt, damit war das Duell beendet. Die Gegner tauschten einen Händedruck.
     
    MINISTER ERKRANKT
    St. Petersburg
. Der vor einigen Tagen an Lungenentzündung erkrankte Minister für Verkehr ist auf dem Wege der Besserung: Er hat keine Schmerzen mehr in der Brust und hat die letzte Nacht gut geschlafen. Er ist bei vollem Bewußtsein.
     
    Anissi las auch die Reklameanzeigen: für ein erfrischendes Glyzerinpuder, für eine Schuhcreme für Galoschen, für neueste Klappbetten und nikotinabweisende Zigarettenspitzen.Von einer seltsamen Apathie ergriffen, studierte er lange ein Bild, unter dem stand:
     
    Das geruchlose Puder-Klosett von Ingenieur S. Timochowitsch. Es ist preiswert, entspricht allen Anforderungen der Hygiene und paßt in jeden Wohnraum. Das Klosett kann in Aktion besichtigt werden – im Hause Adadurows nahe des Roten Tors. Vermietung für Sommerhäuser möglich.
     
    Dann saß Anissi einfach da und blickte traurig aus dem Fenster.
    Ishizyn hingegen sprühte vor Energie. Unter seiner persönlichen Aufsicht wurden zusätzliche Tische in den Seziersaal getragen, so daß es insgesamt dreizehn waren. Zwei Totengräber, der Wärter und die Polizisten brachten auf Bahren aus dem Kühlraum die drei identifizierten und die zehn namenlosen Leichen, darunter auch die minderjährige Landstreicherin. Ishizyn gruppierte die Leichen mehrfach neu, um einen maximalen optischen Effekt zu erzielen. Anissi zuckte zusammen, als er aus dem Nebenraum durch die geschlossene Tür den schneidenden dünnen Kommandotenor Ishizyns hörte: »Wo stellst du den Tisch hin, du Trottel? In Hufeisenform, hab ich gesagt.« Oder noch schlimmer: »Nicht so, nicht so! Klapp ihr den Bauch weiter auf! Gefroren, na und? Mit dem Spaten, dem Spaten! So ist es gut.«
    Die Festgenommenen wurden gegen drei Uhr nachmittags gebracht, jeder in einer Droschke mit Bewachung.
    Anissi sah durchs Fenster, wie als erster ein rundgesichtiger, breitschultriger Mann in zerknittertem schwarzem Frack und mit verrutschter weißer Krawatte zum Leichenschauhaus geführt wurde – das mußte der Fabrikant Burylin sein, der seit der gestrigen Festnahme noch nicht zu Hausegewesen war. Zehn Minuten später wurde Stenitsch gebracht. Er trug einen weißen Kittel (war offenbar direkt aus der Klinik geholt worden) und blickte gehetzt nach

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