Schönheit der toten Mädchen
Griff waren frische Spuren von Waffenöl. Wieso hat Sacharow den nicht mitgenommen, wunderte sich Ljalin. Hat er ihn vergessen? Oder absichtlich dagelassen? Aber warum?
Mussja blamierte sich bis auf die Knochen. Anfangs hatte sie trotz der Nässe ziemlich rasch die Witterung aufgenommen und war losgelaufen, aber dann kam hinter der Umzäunung ein kräftiger zottiger Rüde hervorgeschossen und kläffte so wütend, daß Mussja sich auf die Hinterpfotensetzte, dann zurückwich und nicht mehr von der Stelle zu bewegen war. Der Friedhofswärter nahm den Rüden an die Kette, aber Mussja hatte keinen Schneid mehr. Spürhunde sind sensibel, bei ihnen hängt alles von der Stimmung ab.
»Wer von ihnen ist wer?« fragte Fandorin und zeigte vom Fenster auf die Friedhofsangestellten.
Ljalin erklärte: »Der Dicke mit der Schirmmütze ist der Aufseher. Er wohnt außerhalb des Friedhofs und hat mit der Arbeit im Polizei-Leichenschauhaus nichts zu tun. Gestern ist er um halb sechs gegangen und heute morgen eine Viertelstunde vor Ihnen gekommen. Der Lange, Schwindsüchtige ist Sacharows Assistent Grumow. Er ist auch erst vorhin gekommen. Der mit dem gesenkten Kopf ist der Wärter. Die übrigen zwei sind Arbeiter. Sie heben Gräber aus, reparieren die Umzäunung, bringen den Müll weg und so weiter. Der Wärter und die Arbeiter wohnen gleich hier beim Friedhof und könnten etwas gehört haben. Aber wir haben keine gründliche Befragung vorgenommen, wir hatten keine Anweisung.«
Fandorin sprach selbst mit den Friedhofsangestellten.
Er rief sie ins Haus und zeigte ihnen als erstes den Colt.
»Kennen Sie den?«
Grumow und Pachomenko sagten aus (Ljalin schrieb es mit Bleistift ins Protokoll), daß ihnen der Revolver bekannt sei, sie hätten ihn oder genauso einen beim Doktor gesehen. Der Totengräber Kulkow fügte hinzu, daß er den »Levolter« nicht von nahem gesehen, im vergangenen Monat aber zugeguckt habe, wie der »Dokter« auf Krähen gefeuert habe, sehr gekonnt, bei jedem Schuß seien die Federn nur so geflogen.
Die drei Schüsse in der letzten Nacht, abgegeben vonTulpow, hatten Pachomenko und der Arbeiter Chrjukin gehört. Kulkow hatte seinen Rausch ausgeschlafen und war von dem Krach nicht wach geworden.
Pachomenko und Chrjukin sagten, sie hätten Angst gehabt, hinauszugehen, denn da konnte sich ja sonstwer nachts herumtreiben, außerdem hätte niemand um Hilfe gerufen. Chrjukin war bald darauf wieder eingeschlafen, Pachomenko dagegen wach geblieben. Nach seinen Worten schlug kurz nach den Schüssen eine Tür laut zu, und jemand ging hastig zum Tor.
»Was denn, haben Sie die Ohren gespitzt?« fragte Fandorin.
»Na freilich doch«, antwortete Pachomenko. »Immerhin ist geschossen worden. Und ich kann nächtens sowieso nicht gut schlafen. Alle möglichen Gedanken kriechen mir durch den Kopf. Bis zum Hellwerden hab ich mich herumgewälzt. Sagen Sie, Pan General, ist dieses junge Bürschlein wirklich tot? Das ist so ein Scharfäugiger gewesen, und freundlich mit uns kleinen Leuten.«
Über Fandorin war bekannt, daß er unter ihm Stehende immer höflich behandelte, doch jetzt erkannte ihn Ljalin nicht wieder. Die rührenden Worte des Wärters ließ der Kollegienrat unbeantwortet, und er bezeigte auch kein Interesse für dessen nächtliche Gedanken. Er drehte sich abrupt um und warf den Zeugen über die Schulter hin: »Sie können gehen. Keiner darf sich vom Friedhof entfernen. Vielleicht werden Sie noch gebraucht. Grumow, Sie bleiben.«
Der Mann war wie ausgewechselt.
Den erschrocken zwinkernden Grumow fragte er: »Womit hat sich Sacharow gestern abend beschäftigt? Und bitte ausführlich.«
Grumow breitete schuldbewußt die Arme aus und sagte:»Das weiß ich nicht. Jegor Williamowitsch waren gestern sehr mißgestimmt und haben nur geschimpft. Und nachmittags hat er mir freigegeben. Wir haben uns nicht einmal verabschiedet – er hatte sich in seinem Zimmer eingeschlossen.«
»Nachmittags, um wieviel Uhr war das?«
»In der vierten Stunde.«
»In der vierten«, wiederholte Fandorin, schüttelte den Kopf und hatte offensichtlich an dem schwindsüchtigen Assistenten jegliches Interesse verloren. »Sie können gehen.«
Ljalin trat zu Fandorin und hüstelte taktvoll.
»Ich habe da eine Personenbeschreibung von Sacharow entworfen. Möchten Sie sie lesen?«
Der ausgewechselte Fandorin warf nicht mal einen Blick auf die vorzügliche Beschreibung, er winkte ab. Eine solche Mißachtung des Diensteifers kränkte
Weitere Kostenlose Bücher