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Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Titel: Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Englund
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Ihre Hauptaufgabe besteht darin, 300 Tonnen Kohle zu löschen. Normalerweise teilen ihnen die Offiziere nichts mit, aber es geht das Gerücht, dass die englische Flotte ausgelaufen ist. Einige sagen, sie sei unterwegs in die Ostsee. Andere glauben, sie sei schon im Großen Belt. Stumpf sieht, dass das erste und dritte Geschwader ebenfalls in den Hafen gekommen sind. «Etwas Wichtiges ist im Gange.»
    Stumpf vermutet, dass das Löschen der Kohle den Zweck hat, das Schiff leichter zu machen, damit sie so schnell wie möglich den Kaiser-Wilhelm-Kanal passieren können.  10 Er schreibt in sein Tagebuch:
     
Wir, das heißt die ganze Besatzung, arbeiteten also angestrengt den ganzen Morgen. Zu Mittag waren bereits 120 Tonnen Kohlen entladen. Da kommt vom Geschwaderflaggschiff ein Winkspruch herüber: «Aufhören mit den Vorbereitungen».
Das war wieder eine Enttäuschung! Alles unnötige Arbeit. Diese verfluchten Engländer! Wir sind aber anscheinend ausgezeichnet über die Bewegungen ihrer Flotte orientiert.
     
    Er fügt hinzu:
     
In den nun folgenden Tagen und Wochen passierte nichts Erwähnenswertes mehr.

8.
    Montag, 28. September 1914
    Kresten Andresen lernt in Flensburg, wie man Fleischwunden verbindet
     
    Bald ist es so weit. Es kann einen Tag dauern, vielleicht zwei oder möglicherweise drei. Aber dann werden sie sich auf den Weg machen. Und dabei geht es nicht nur um das übliche Kasernenhofgeschwätz. Die Luft schwirrt ja von Gerüchten: Vermutungen, die zu Wahrscheinlichkeiten erhoben wurden, Hoffnungen, die sich in Fakten verwandelt haben, Ängste, die als Behauptungen daherkommen. Ungewissheit ist die Natur des Krieges, das Nichtwissenkönnen sein Medium.
    Aber die Zeichen sind eindeutig. Es herrscht Urlaubssperre, niemand darf die Kaserne verlassen. An diesem Tag hat es auch nicht so viel Drill und sonstiges unnützes Training gegeben. Stattdessen lernten sie das Überlebensnotwendige, wie man eine Fleischwunde verbindet, welche Regeln für den Notproviant (die sogenannte Eiserne Ration) gelten, wie sie sich bei Eisenbahntransporten verhalten sollen und was geschieht, wenn man desertiert (Todesstrafe). Es ist das Leben des wehrpflichtigen Soldaten als Quadratur: Kampf, Rationen, Transport, Zwang.
    Kresten Andresen ist unruhig, bekümmert und ängstlich. Der Gedanke an die Front weckt in ihm nicht den geringsten Funken Sehnsucht. Er gehört einer jener nationalen Minderheiten an, die sich plötzlich und ohne eigenes Verschulden in einen großen Krieg hineingezogen sehen, an dem sie eigentlich kein Interesse haben. Viele bereiten sich in diesen Tagen darauf vor zu sterben – und für ein Land zu sterben, mit dem sie sich im Grunde nur äußerlich verbunden fühlen: Elsässer und Polen, Ruthenen und Kaschuben, Slowenen und Finnen, Südtiroler und Siebenbürger, Balten und Bosnier, Tschechen und Iren.  11 Andresens Sprache ist Dänisch, aber er ist deutscher Staatsbürger, er wohnt im früher dänischen Schleswig, das seit mehr als einem halben Jahrhundert zum Deutschen Reich gehört.  12
    In allen Ländern mit großen nationalen Minderheiten gibt es ein ausgeprägtes Bewusstsein für die Schwierigkeiten, die dadurch in Kriegszeiten entstehen können. Das Ganze wird jedoch zunächst als eine Polizeiangelegenheit betrachtet. Auch in den dänischsprachigen Gebieten Deutschlands. Kaum hing der Mobilisierungsbefehl aus, wurden Hunderte von Dänen verhaftet, die als Anführer oder zumindest als potenzielle Rädelsführer galten. Auch Andresens Vater zählte zu denen, die bei Nacht, in einem geschlossenen Automobil, abgeholt wurden.  13 In den ersten Wochen herrschte eine seltsame Stimmung zwischen Jubel und Hysterie, Hoffnung und Angst, die in Wut umschlug. Und natürlich immer wieder Gerüchte.
    Auch für ihn war der Kriegsausbruch ein merkwürdiges Erlebnis gewesen. Er hatte gerade letzte Hand an ein Manuskript gelegt: «Ein Buch über Frühling und Jugend». Es war eine Art Prosagedicht über das Landleben, die Natur und die junge Liebe. Das Manuskript selbst war so etwas wie eine Liebestat, mit seinem hellblauen Umschlag, seinen hübsch kolorierten Vignetten und handgezeichneten Initialen – alles selbstgemacht. Das Werk schloss mit den Zeilen: «Eine Glocke verklingt, noch eine und noch eine; die Glocken verstummen mehr und mehr; immer schwächer tönt der Klang, ersterbend; dann verstummen sie ganz. Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg?» Und gerade als er die letzten Worte schrieb,

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