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Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Titel: Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Englund
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Toten
     
    «Ich wollte ihn sehen; ich wollte den Tod sehen.» So schreibt sie selbst. Sie hatte noch nie vor einer Leiche gestanden, ja, bis vor kurzem nicht einmal einen Erwachsenen im Krankenbett erlebt, vielleicht etwas seltsam, da sie immerhin siebenundzwanzig Jahre alt ist, aber das lässt sich wohl damit erklären, dass sie bis zum August 1914 ziemlich behütet gelebt hat. Florence Farmborough ist in England geboren und aufgewachsen, auf dem Lande, in Buckinghamshire, lebt aber seit 1908 in Russland. Sie hat als Gouvernante der Töchter eines bekannten russischen Herzchirurgen in Moskau gearbeitet.
    Die internationale Krise, die sich während des schönen und warmen Spätsommers 1914 zusammengebraut hatte, war im Großen und Ganzen an ihr vorbeigegangen, da sie sich mit der Familie auf deren Datscha außerhalb von Moskau befand. Nach der Rückkehr in die Stadt hatte sie jedoch ein «jugendlicher Enthusiasmus» ergriffen wie so viele andere. Ihr altes und ihr neues Heimatland hatten sich jetzt im Kampf gegen denselben Feind vereinigt, gegen Deutschland, und die tatkräftige junge Frau begann sich zu fragen, was sie selbst zum Kriegseinsatz beitragen konnte. Die Antwort folgte umgehend: Sie wurde Krankenschwester. Ihrem Arbeitgeber, dem bekannten Chirurgen, gelang es, die Verantwortlichen in einem der privaten Lazarette, die gerade in Moskau errichtet wurden, zu überreden, Florence und seine beiden Töchter als Freiwillige anzunehmen.
    Es waren wunderbare Tage. Dann begannen die Verwundeten einzutreffen, jeweils zu zweit oder zu dritt. Vieles war anfangs unangenehm, und sie zuckte sogar zurück, als sie eine besonders grässliche klaffende Fleischwunde vor sich hatte. Aber im Laufe der Zeit gewöhnte sie sich daran. Außerdem war die Stimmung so gut. Es gab ein neues Gefühl des Zusammenhalts, nicht zuletzt unter den Soldaten:
     
Sie pflegen eine seltsame Kameradschaft: Weißrussen verkehren höchst freundschaftlich mit Ukrainern, Kaukasier mit Leuten vom Ural, Tataren mit Kosaken. Meist sind es verträgliche, geduldige Männer, dankbar für die Aufmerksamkeit, die sie erhalten; sie klagen selten oder nie.
     
    Und doch wollen viele so schnell wie möglich zurück an die Front. Es herrscht auch großer Optimismus, unter den Soldaten wie beim Lazarettpersonal. Bald sind die Wunden verheilt, bald sind die Soldaten wieder im Dienst, bald ist der Krieg gewonnen. Das Lazarett nimmt in der Regel nur leichtere Fälle auf, was vielleicht erklärt, dass Florence auch nach drei Wochen noch keinen Toten gesehen hat.
    Als sie an diesem Morgen ins Lazarett kommt, trifft sie eine der Nachtschwestern. Florence hat den Eindruck, dass sie «müde und angespannt» aussieht, und die Frau sagt im Vorbeigehen: «Vasilij ist heute Morgen gestorben.» Vasilij ist einer von denen, die Florence gepflegt hat. Er war zwar Soldat, aber nur als Stallknecht eines Offiziers, und seine Verwundung war ironischerweise keine «richtige» Kriegsverletzung. Vasilij wurde von einem verängstigten und unruhigen Pferd übel am Kopf getroffen, und als sie ihn operierten, kam noch eine zweite Ironie hinzu. Sie entdeckten nämlich einen unheilbaren Hirntumor. Drei Wochen hat er ruhig in seinem Bett gelegen, ein blonder, gebrechlicher kleiner Mann, der immer dünner wurde, weil es ihm schwerfiel zu essen, der aber dauernd Wasser trinken wollte. Und nun ist er gestorben, so still und einsam, wie er gelebt hat.
    Florence will die Leiche sehen. Sie schlüpft in den Raum, der als Leichenhalle dient, und schließt die Tür behutsam hinter sich. Dort liegt Vasilij oder das, was Vasilij gewesen ist, auf einer Bahre.
     
Er war so schmal und dünn und zusammengeschrumpft, dass er eher einem Kind als einem erwachsenen Mann glich. Sein erstarrtes Gesicht war grauweiß, nie zuvor habe ich eine so seltsame Gesichtsfarbe gesehen, und seine Wangen waren zu zwei Hohlräumen eingesunken.
     
    Auf den Lidern liegen Zuckerstücke, um sie geschlossen zu halten. Ihr ist unbehaglich, nicht so sehr wegen des leblosen Körpers als wegen der Stille, des Schweigens. Sie denkt: «Der Tod ist etwas furchtbar Unbewegliches, so still, so fern.» Sie spricht ein kurzes Gebet für den Toten und verlässt schnell den Raum.

7.
    Samstag, 26. September 1914
    Richard Stumpf hilft, die SMS Helgoland für den Kampf vorzubereiten
     
    Die Reveille wird an diesem Herbstmorgen schon um vier Uhr geblasen. Das Schiff und seine Besatzung erwachen zu einem Vormittag voll frenetischer Aktivität.

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