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Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Titel: Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Englund
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Lobanov-Rostovskij erkundigt sich nach dem Geschehen und fragt, zu welchem Verband sie gehören. Die blutenden Männer sind viel zu durcheinander und verwirrt, um vernünftige Antworten zu geben. Ein Offizier galoppiert in hohem Tempo vorbei, mit einer geretteten Regimentsfahne vor sich auf dem Sattel – eine Momentaufnahme der Atavismen des Jahres 1914: nicht nur der Kampf unter dem wehenden Banner, sondern auch die geradezu heilige Ehrensache, die darin bestand, die eigenen Feldzeichen niemals in feindliche Hände fallen zu lassen. Der Offizier mit der Fahne wird mit Anfeuerungsrufen empfangen: «Sei vorsichtig!» Auf beiden Seiten der Schlucht detonieren Granaten. Staub hängt in der Luft, und es riecht nach Brand- und Pulverrauch.
    Nachdem er noch eine Weile in der Schlucht weitergegangen ist, mit dem Kompass in der Hand und nicht nur von seiner eigenen Abteilung, sondern auch von drei- bis vierhundert Verwundeten gefolgt, erkennt Lobanov-Rostovskij bestürzt, dass sie – in der Falle sitzen. Zwar führt ihr Weg aus der Schlucht heraus und weiter zur großen Landstraße nach Sandomierz. Das Problem ist nur, dass sich eine deutsche Artilleriebatterie ganz in der Nähe in Stellung gebracht hat. Sie eröffnet sofort das Feuer, als die russische Gruppe aus der Schlucht herauskommt. Lobanov-Rostovskij und die anderen weichen zurück. Weiter entfernt, rechts von der großen Landstraße, sind außerdem noch mehr deutsche Batterien zu erkennen. Lobanov-Rostovskij ist entmutigt, ratlos.
    Da geschieht etwas Merkwürdiges, aber durchaus nicht Ungewöhnliches. Die deutschen Kanonen in ihrer Nähe werden von den eigenen Truppen auf der anderen Seite der Landstraße beschossen, die sie fälschlicherweise für russische halten. Die deutschen Batterien liefern sich ein wildes Artillerieduell. Unterdessen schleichen Lobanov-Rostovskij und die anderen Russen sich an ihnen vorbei. Die deutschen Artilleristen bemerken ihren Irrtum zwar bald, aber da ist der Feind bereits auf der Landstraße nach Sandomierz und einigermaßen in Sicherheit. Von allen Nebenstraßen schließen sich Verbände auf dem Rückzug an. Sie bilden «ein einziges langes schwarzes Band von Karren, beladen mit Verwundeten, aufgeriebenen Artilleriebatterien und allen möglichen Teilen verschiedener Waffen».
    Und dann der nächste Atavismus: Ein Kavallerieregiment in vollendeter Kampfformation kommt auf die Landstraße zu geritten – ein schönes Gemälde aus der Zeit der Napoleonischen Kriege. Deutsche? Nein, russische Husaren. Die Kavallerieoffiziere reiten heran. Ihr ruhiges Lächeln steht in krassem Gegensatz zu der Verwirrung und Angst, die unter den Zurückweichenden herrschen. Es zeigt sich, dass die Kavallerie einem ganz anderen Korps angehört und also keine Ahnung hat, was geschehen ist und gerade geschieht.
    Als sich Lobanov-Rostovskij und seine kleine Kolonne gegen Abend Sandomierz nähern, scheint das Schlimmste vorbei zu sein. Eine neu eingetroffene, ausgeruhte Schützendivision ist dabei, sich auf beiden Seiten der Landstraße einzugraben. Als die Kolonne schließlich in die Stadt einziehen will, findet Lobanov-Rostovskij die Straßen zu eng und das Gedränge zu groß, sodass er seine zwanzig Wagen am Straßenrand warten lässt. Er stellt fest, dass die Kuh noch bei ihnen ist. Sie scheint die Strapazen ausgezeichnet überstanden zu haben. Der Himmel ist bewölkt.
    Im ungeordneten Strom von Verbänden, die an ihm vorbeiziehen, erkennt er einen wieder: das Infanterieregiment, auf das er in der vergangenen Nacht stieß, als es unter freiem Himmel auf den Straßen von Opatów ausruhte, ein einziges regloses, schlafendes Durcheinander von Köpfen und Beinen und Armen und Körpern, weiß gefärbt vom hellen Mondschein. Heute Morgen hatten sie viertausend Mann gezählt. Von diesen sind noch dreihundert übrig sowie sechs Offiziere. Das Regiment ist nahezu ausgelöscht, aber keineswegs geschlagen. Sie tragen noch ihre Fahnen. Und die Ordnung ist gut.
    Am Abend beginnt es zu regnen. Erst jetzt fällt Lobanov-Rostovskij auf, dass er den ganzen Tag nichts gegessen hat. Bei all der Aufregung hat er keinen Hunger verspürt. Gegen elf Uhr erscheint der Rest der Kompanie, übel zugerichtet, aber immerhin. Sie haben zum Glück die Feldküche bei sich. Nun bekommen alle zu essen. In der Ferne nimmt der Kanonendonner ab. Schließlich ist es ganz still. Das, was man später die Schlacht bei Opatów nennen wird, ist zu Ende.
    Strömender Regen. Es ist jetzt

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